Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

man nur noch mit Mühe die Spuren der ehemaligen Anlagen auffinden kann. Die Mauer, die den Park umschloß, ist auch verschwunden, und das Wild läßt sich vom Förster selten mehr dort betreffen und genießt seine Freiheit. Aus dem vielbewunderten Schloßgarten ist ein Gemüsefeld, aus den Weihern sind Sümpfe geworden. Bosquet und Hecken hat man rasirt, und die Nachtigallen, die in Menge darin einheimisch waren, sind verstummt wie die schöne große Orgel in der ebenfalls von Christoph Bernhard von Galen erbauten Kirche; letztere, weil die Gemeinde zu arm ist, um sie repariren zu lassen, erstere, weil man ihnen ihre Wohnungen demolirt und sie obdachlos gemacht hat; nun werden wohl die glücklichern Vögel ihre Stimmen wo anders ertönen lassen, während die arme Orgel schweigen muß!

Zu dem jetzt so verarmten Dorfe gehört aber, nur ein paar Büchsenschüsse davon entfernt, ein Pachthof, dessen stattliche rothe Dächer einen glänzenden Contrast zu den ärmlichen, meist schornsteinlosen Dächern des Ortes bilden. Dieser Pachthof gehört dem Grafen von K., dessen Wohnsitz, ein schönes Schloß, ein paar Meilen weiter in entgegengesetzter Richtung von Münster liegt. Der Pachthof ist schon seit fünf Generationen in den Händen derselben Familie. Der jetzige Pachter ist ein sehr junger hübscher Mann mit auffallend städtischem Ansehen. Auch seine Frau ist eine zierliche Erscheinung und offenbar, was ihre Kleidung

man nur noch mit Mühe die Spuren der ehemaligen Anlagen auffinden kann. Die Mauer, die den Park umschloß, ist auch verschwunden, und das Wild läßt sich vom Förster selten mehr dort betreffen und genießt seine Freiheit. Aus dem vielbewunderten Schloßgarten ist ein Gemüsefeld, aus den Weihern sind Sümpfe geworden. Bosquet und Hecken hat man rasirt, und die Nachtigallen, die in Menge darin einheimisch waren, sind verstummt wie die schöne große Orgel in der ebenfalls von Christoph Bernhard von Galen erbauten Kirche; letztere, weil die Gemeinde zu arm ist, um sie repariren zu lassen, erstere, weil man ihnen ihre Wohnungen demolirt und sie obdachlos gemacht hat; nun werden wohl die glücklichern Vögel ihre Stimmen wo anders ertönen lassen, während die arme Orgel schweigen muß!

Zu dem jetzt so verarmten Dorfe gehört aber, nur ein paar Büchsenschüsse davon entfernt, ein Pachthof, dessen stattliche rothe Dächer einen glänzenden Contrast zu den ärmlichen, meist schornsteinlosen Dächern des Ortes bilden. Dieser Pachthof gehört dem Grafen von K., dessen Wohnsitz, ein schönes Schloß, ein paar Meilen weiter in entgegengesetzter Richtung von Münster liegt. Der Pachthof ist schon seit fünf Generationen in den Händen derselben Familie. Der jetzige Pachter ist ein sehr junger hübscher Mann mit auffallend städtischem Ansehen. Auch seine Frau ist eine zierliche Erscheinung und offenbar, was ihre Kleidung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0009"/>
man nur noch mit Mühe die Spuren der ehemaligen Anlagen auffinden kann. Die      Mauer, die den Park umschloß, ist auch verschwunden, und das Wild läßt sich vom Förster selten      mehr dort betreffen und genießt seine Freiheit. Aus dem vielbewunderten Schloßgarten ist ein      Gemüsefeld, aus den Weihern sind Sümpfe geworden. Bosquet und Hecken hat man rasirt, und die      Nachtigallen, die in Menge darin einheimisch waren, sind verstummt wie die schöne große Orgel      in der ebenfalls von Christoph Bernhard von Galen erbauten Kirche; letztere, weil die Gemeinde      zu arm ist, um sie repariren zu lassen, erstere, weil man ihnen ihre Wohnungen demolirt und sie      obdachlos gemacht hat; nun werden wohl die glücklichern Vögel ihre Stimmen wo anders ertönen      lassen, während die arme Orgel schweigen muß!</p><lb/>
        <p>Zu dem jetzt so verarmten Dorfe gehört aber, nur ein paar Büchsenschüsse davon entfernt, ein      Pachthof, dessen stattliche rothe Dächer einen glänzenden Contrast zu den ärmlichen, meist      schornsteinlosen Dächern des Ortes bilden. Dieser Pachthof gehört dem Grafen von K., dessen      Wohnsitz, ein schönes Schloß, ein paar Meilen weiter in entgegengesetzter Richtung von Münster      liegt. Der Pachthof ist schon seit fünf Generationen in den Händen derselben Familie. Der      jetzige Pachter ist ein sehr junger hübscher Mann mit auffallend städtischem Ansehen. Auch      seine Frau ist eine zierliche Erscheinung und offenbar, was ihre Kleidung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0009] man nur noch mit Mühe die Spuren der ehemaligen Anlagen auffinden kann. Die Mauer, die den Park umschloß, ist auch verschwunden, und das Wild läßt sich vom Förster selten mehr dort betreffen und genießt seine Freiheit. Aus dem vielbewunderten Schloßgarten ist ein Gemüsefeld, aus den Weihern sind Sümpfe geworden. Bosquet und Hecken hat man rasirt, und die Nachtigallen, die in Menge darin einheimisch waren, sind verstummt wie die schöne große Orgel in der ebenfalls von Christoph Bernhard von Galen erbauten Kirche; letztere, weil die Gemeinde zu arm ist, um sie repariren zu lassen, erstere, weil man ihnen ihre Wohnungen demolirt und sie obdachlos gemacht hat; nun werden wohl die glücklichern Vögel ihre Stimmen wo anders ertönen lassen, während die arme Orgel schweigen muß! Zu dem jetzt so verarmten Dorfe gehört aber, nur ein paar Büchsenschüsse davon entfernt, ein Pachthof, dessen stattliche rothe Dächer einen glänzenden Contrast zu den ärmlichen, meist schornsteinlosen Dächern des Ortes bilden. Dieser Pachthof gehört dem Grafen von K., dessen Wohnsitz, ein schönes Schloß, ein paar Meilen weiter in entgegengesetzter Richtung von Münster liegt. Der Pachthof ist schon seit fünf Generationen in den Händen derselben Familie. Der jetzige Pachter ist ein sehr junger hübscher Mann mit auffallend städtischem Ansehen. Auch seine Frau ist eine zierliche Erscheinung und offenbar, was ihre Kleidung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/9
Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/9>, abgerufen am 21.11.2024.