Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Nun, sagte gerührt der Geistliche, in einem Jahre wird Ihr irdisches Glück wieder hergestellt sein! Wenn ich es erlebe! sagte Therese mit einem Lächeln, das dem Manne durch die Seele schnitt. Er wandte sich zu seinem Neffen und frug bittend: Kann denn die Mutter nicht zuweilen ihr Kind sehen? Therese wäre beinahe vor ihrem Fürsprecher auf die Kniee gefallen, als der Graf mit der höflichen Kälte eines vornehmen Mannes sagte: Es ist unmöglich, das könnte meiner Frau Alles verrathen. Aber, frug nun Therese schüchtern, die Frau Gräfin gehen so früh zu Bett -- könnte ich nicht wenigstens des Abends dann im Schlaf mein Kind sehen? Seitdem sie zurück von Ostende ist, muß trotz dem ausdrücklichen Verbot der Aerzte das kleine Bett dicht vor dem ihrigen stehen, und da Ihr Kind, setzte der Graf mit bitterm Lächeln hinzu, viel ruhiger schläft, als das unsere es gethan, so möchte ich meiner Frau diese Freude nicht verwehren! Therese ging, nachdem sie noch dem geistlichen Herrn einen dankenden Blick für seine Verwendung zugeworfen. Unten bestieg sie ihren kleinen bescheidenen Wagen, und mit sehnsüchtigem Blick nach den hohen Scheiben, hinter denen sie ihres Herzens Liebling wußte, fuhr sie von dannen. Nun, sagte gerührt der Geistliche, in einem Jahre wird Ihr irdisches Glück wieder hergestellt sein! Wenn ich es erlebe! sagte Therese mit einem Lächeln, das dem Manne durch die Seele schnitt. Er wandte sich zu seinem Neffen und frug bittend: Kann denn die Mutter nicht zuweilen ihr Kind sehen? Therese wäre beinahe vor ihrem Fürsprecher auf die Kniee gefallen, als der Graf mit der höflichen Kälte eines vornehmen Mannes sagte: Es ist unmöglich, das könnte meiner Frau Alles verrathen. Aber, frug nun Therese schüchtern, die Frau Gräfin gehen so früh zu Bett — könnte ich nicht wenigstens des Abends dann im Schlaf mein Kind sehen? Seitdem sie zurück von Ostende ist, muß trotz dem ausdrücklichen Verbot der Aerzte das kleine Bett dicht vor dem ihrigen stehen, und da Ihr Kind, setzte der Graf mit bitterm Lächeln hinzu, viel ruhiger schläft, als das unsere es gethan, so möchte ich meiner Frau diese Freude nicht verwehren! Therese ging, nachdem sie noch dem geistlichen Herrn einen dankenden Blick für seine Verwendung zugeworfen. Unten bestieg sie ihren kleinen bescheidenen Wagen, und mit sehnsüchtigem Blick nach den hohen Scheiben, hinter denen sie ihres Herzens Liebling wußte, fuhr sie von dannen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0052"/> <p>Nun, sagte gerührt der Geistliche, in einem Jahre wird Ihr irdisches Glück wieder hergestellt sein!</p><lb/> <p>Wenn ich es erlebe! sagte Therese mit einem Lächeln, das dem Manne durch die Seele schnitt.</p><lb/> <p>Er wandte sich zu seinem Neffen und frug bittend:</p><lb/> <p>Kann denn die Mutter nicht zuweilen ihr Kind sehen?</p><lb/> <p>Therese wäre beinahe vor ihrem Fürsprecher auf die Kniee gefallen, als der Graf mit der höflichen Kälte eines vornehmen Mannes sagte:</p><lb/> <p>Es ist unmöglich, das könnte meiner Frau Alles verrathen.</p><lb/> <p>Aber, frug nun Therese schüchtern, die Frau Gräfin gehen so früh zu Bett — könnte ich nicht wenigstens des Abends dann im Schlaf mein Kind sehen?</p><lb/> <p>Seitdem sie zurück von Ostende ist, muß trotz dem ausdrücklichen Verbot der Aerzte das kleine Bett dicht vor dem ihrigen stehen, und da Ihr Kind, setzte der Graf mit bitterm Lächeln hinzu, viel ruhiger schläft, als das unsere es gethan, so möchte ich meiner Frau diese Freude nicht verwehren!</p><lb/> <p>Therese ging, nachdem sie noch dem geistlichen Herrn einen dankenden Blick für seine Verwendung zugeworfen. Unten bestieg sie ihren kleinen bescheidenen Wagen, und mit sehnsüchtigem Blick nach den hohen Scheiben, hinter denen sie ihres Herzens Liebling wußte, fuhr sie von dannen.</p><lb/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0052]
Nun, sagte gerührt der Geistliche, in einem Jahre wird Ihr irdisches Glück wieder hergestellt sein!
Wenn ich es erlebe! sagte Therese mit einem Lächeln, das dem Manne durch die Seele schnitt.
Er wandte sich zu seinem Neffen und frug bittend:
Kann denn die Mutter nicht zuweilen ihr Kind sehen?
Therese wäre beinahe vor ihrem Fürsprecher auf die Kniee gefallen, als der Graf mit der höflichen Kälte eines vornehmen Mannes sagte:
Es ist unmöglich, das könnte meiner Frau Alles verrathen.
Aber, frug nun Therese schüchtern, die Frau Gräfin gehen so früh zu Bett — könnte ich nicht wenigstens des Abends dann im Schlaf mein Kind sehen?
Seitdem sie zurück von Ostende ist, muß trotz dem ausdrücklichen Verbot der Aerzte das kleine Bett dicht vor dem ihrigen stehen, und da Ihr Kind, setzte der Graf mit bitterm Lächeln hinzu, viel ruhiger schläft, als das unsere es gethan, so möchte ich meiner Frau diese Freude nicht verwehren!
Therese ging, nachdem sie noch dem geistlichen Herrn einen dankenden Blick für seine Verwendung zugeworfen. Unten bestieg sie ihren kleinen bescheidenen Wagen, und mit sehnsüchtigem Blick nach den hohen Scheiben, hinter denen sie ihres Herzens Liebling wußte, fuhr sie von dannen.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/52>, abgerufen am 16.02.2025. |