Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Mitleid der Wärterin bereitwillig den Anblick des Kindes gönnte. So kam der Frühling. Die neue Orgel sollte am nächsten Sonntage zum ersten Male ertönen, und das ganze Dorf war in gespannter Erwartung, denn der Herr Graf hatte versprochen, zusammt der Frau Gräfin dem Hochamt beizuwohnen. Mit Tagesanbruch schon rannten die weißgekleideten Festspalierkinder mit hochgeschürzten Röckchen durch die schmutzigen Gassen; der Weg aus dem Hause des Pastors nach dem des Küsters war fortwährend belebt mit Ornamente und Leuchter tragenden "Kirchenvätern", denn so hieß der Ausschuß frommer Bürger, die für das "leibliche Wohl" des Gotteshauses sorgten. Therese hatte sich in ein großes Tuch gewickelt und stand an einen Baum des Kirchhofs gelehnt, um die Frau ankommen zu sehen, in deren Augen sie das Glück lesen wollte, das ihr Kind ihr bereitete. Die Glocken läuteten, sogar einige Böller waren gelös't worden; die Kinder, an ihrer Spitze der Schulmeister, bildeten die eine Seite des Spaliers, auf der andern Seite war die sämmtliche Bauerschaft, angeführt vom regierenden Bürgermeister, Alles gegenwärtig, die Wohlthäter des Dorfes, Ihre hochgräflichen Gnaden, zu empfangen. Endlich kamen sie! Die vierspännige Carosse braus'te daher, bis sie am Spalier angekommen war, Mitleid der Wärterin bereitwillig den Anblick des Kindes gönnte. So kam der Frühling. Die neue Orgel sollte am nächsten Sonntage zum ersten Male ertönen, und das ganze Dorf war in gespannter Erwartung, denn der Herr Graf hatte versprochen, zusammt der Frau Gräfin dem Hochamt beizuwohnen. Mit Tagesanbruch schon rannten die weißgekleideten Festspalierkinder mit hochgeschürzten Röckchen durch die schmutzigen Gassen; der Weg aus dem Hause des Pastors nach dem des Küsters war fortwährend belebt mit Ornamente und Leuchter tragenden „Kirchenvätern“, denn so hieß der Ausschuß frommer Bürger, die für das „leibliche Wohl“ des Gotteshauses sorgten. Therese hatte sich in ein großes Tuch gewickelt und stand an einen Baum des Kirchhofs gelehnt, um die Frau ankommen zu sehen, in deren Augen sie das Glück lesen wollte, das ihr Kind ihr bereitete. Die Glocken läuteten, sogar einige Böller waren gelös't worden; die Kinder, an ihrer Spitze der Schulmeister, bildeten die eine Seite des Spaliers, auf der andern Seite war die sämmtliche Bauerschaft, angeführt vom regierenden Bürgermeister, Alles gegenwärtig, die Wohlthäter des Dorfes, Ihre hochgräflichen Gnaden, zu empfangen. Endlich kamen sie! Die vierspännige Carosse braus'te daher, bis sie am Spalier angekommen war, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0059"/> Mitleid der Wärterin bereitwillig den Anblick des Kindes gönnte.</p><lb/> <p>So kam der Frühling. Die neue Orgel sollte am nächsten Sonntage zum ersten Male ertönen, und das ganze Dorf war in gespannter Erwartung, denn der Herr Graf hatte versprochen, zusammt der Frau Gräfin dem Hochamt beizuwohnen.</p><lb/> <p>Mit Tagesanbruch schon rannten die weißgekleideten Festspalierkinder mit hochgeschürzten Röckchen durch die schmutzigen Gassen; der Weg aus dem Hause des Pastors nach dem des Küsters war fortwährend belebt mit Ornamente und Leuchter tragenden „Kirchenvätern“, denn so hieß der Ausschuß frommer Bürger, die für das „leibliche Wohl“ des Gotteshauses sorgten.</p><lb/> <p>Therese hatte sich in ein großes Tuch gewickelt und stand an einen Baum des Kirchhofs gelehnt, um die Frau ankommen zu sehen, in deren Augen sie das Glück lesen wollte, das ihr Kind ihr bereitete.</p><lb/> <p>Die Glocken läuteten, sogar einige Böller waren gelös't worden; die Kinder, an ihrer Spitze der Schulmeister, bildeten die eine Seite des Spaliers, auf der andern Seite war die sämmtliche Bauerschaft, angeführt vom regierenden Bürgermeister, Alles gegenwärtig, die Wohlthäter des Dorfes, Ihre hochgräflichen Gnaden, zu empfangen.</p><lb/> <p>Endlich kamen sie! Die vierspännige Carosse braus'te daher, bis sie am Spalier angekommen war,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0059]
Mitleid der Wärterin bereitwillig den Anblick des Kindes gönnte.
So kam der Frühling. Die neue Orgel sollte am nächsten Sonntage zum ersten Male ertönen, und das ganze Dorf war in gespannter Erwartung, denn der Herr Graf hatte versprochen, zusammt der Frau Gräfin dem Hochamt beizuwohnen.
Mit Tagesanbruch schon rannten die weißgekleideten Festspalierkinder mit hochgeschürzten Röckchen durch die schmutzigen Gassen; der Weg aus dem Hause des Pastors nach dem des Küsters war fortwährend belebt mit Ornamente und Leuchter tragenden „Kirchenvätern“, denn so hieß der Ausschuß frommer Bürger, die für das „leibliche Wohl“ des Gotteshauses sorgten.
Therese hatte sich in ein großes Tuch gewickelt und stand an einen Baum des Kirchhofs gelehnt, um die Frau ankommen zu sehen, in deren Augen sie das Glück lesen wollte, das ihr Kind ihr bereitete.
Die Glocken läuteten, sogar einige Böller waren gelös't worden; die Kinder, an ihrer Spitze der Schulmeister, bildeten die eine Seite des Spaliers, auf der andern Seite war die sämmtliche Bauerschaft, angeführt vom regierenden Bürgermeister, Alles gegenwärtig, die Wohlthäter des Dorfes, Ihre hochgräflichen Gnaden, zu empfangen.
Endlich kamen sie! Die vierspännige Carosse braus'te daher, bis sie am Spalier angekommen war,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/59 |
Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/59>, abgerufen am 16.02.2025. |