Dieser Mann muste mit durchdringendem Scharfsinne und mit gleich grosser Empfindungs- und Einbildungskraft ausgerüstet seyn, um von den kleinsten Dingen eben so sehr gerührt zu werden, als von den grossen. Sein Geistes- blick muste schnell seyn, um keine Gelegenheit entschlüpfen zu lassen; seine Beurtheilungskraft streng, um von keinem Schein betrogen zu wer- den; er muste Geschmack an der Natur haben, das ist, er muste zum Beobachter nicht durch Kunst gebildet, sondern von der Natur geboh- ren seyn. -- Aber wie wenige gelangen zu dem, zu was sie gebohren sind!
Durchblättern wir die Schriften der un- verdrossensten Beobachter, so schwindelt uns zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach- tungen; und dennoch sind solche, die ein voll- kommener, ungekünstelter und unverfälschter Abdruck der Natur wären, so selten! Wer kann jede Thatsache als Ursache, als Wirkung, als Folge, von allen Seiten, in allen Verhält- nissen so untersuchen, daß nicht zuweilen die
behut-
Vorrede.
Dieſer Mann muſte mit durchdringendem Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs- und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes- blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer- den; er muſte Geſchmack an der Natur haben, das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh- ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem, zu was ſie gebohren ſind!
Durchblaͤttern wir die Schriften der un- verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach- tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll- kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung, als Folge, von allen Seiten, in allen Verhaͤlt- niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die
behut-
<TEI><text><front><divn="1"><pbfacs="#f0010"n="V"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></fw><lb/><p>Dieſer Mann muſte mit durchdringendem<lb/>
Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs-<lb/>
und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von<lb/>
den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu<lb/>
werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes-<lb/>
blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit<lb/>
entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft<lb/>ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer-<lb/>
den; er muſte Geſchmack an der Natur haben,<lb/>
das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch<lb/>
Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh-<lb/>
ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem,<lb/>
zu was ſie gebohren ſind!</p><lb/><p>Durchblaͤttern wir die Schriften der un-<lb/>
verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns<lb/>
zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach-<lb/>
tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll-<lb/>
kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter<lb/>
Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer<lb/>
kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung,<lb/>
als Folge, von allen Seiten, in allen Verhaͤlt-<lb/>
niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">behut-</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[V/0010]
Vorrede.
Dieſer Mann muſte mit durchdringendem
Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs-
und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von
den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu
werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes-
blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit
entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft
ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer-
den; er muſte Geſchmack an der Natur haben,
das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch
Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh-
ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem,
zu was ſie gebohren ſind!
Durchblaͤttern wir die Schriften der un-
verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns
zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach-
tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll-
kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter
Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer
kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung,
als Folge, von allen Seiten, in allen Verhaͤlt-
niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die
behut-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/10>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.