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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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Müssiges gemacht. -- So bald ich mir diese Kräfte,
diese Richtung in den Bildungstrieb und die Organi-
sation selbst hinein denke, so bedarf ich durchaus keiner
inneren, wirksamen Empfindung. Das Anschießen zu
den herrlichsten, nach den strengsten Gesetzen der Meß-
kunst gebildeten Krystallen, der prächtige Bau der
Befruchtungswerkzeuge der Blume bey den Pflanzen,
die Selbsterstattung der Gewächse und mancher Thiere,
das Gewebe der Spinne, die Zellen der unter drey
Einzelnheiten vertheilten Organisation der Bienen,
die Stärke der Ameise, das Einspinnen der Raupe,
das Häuten der Schlange, das Mausen der Vögel,
und das Häären der Thiere und Menschen sind eben
so viele, aus dem Bau, den darinn vereinten und
dadurch bewirkten Kräften eines jeden einzelnen Ge-
schöpfes entspringende Erscheinungen, wobey nicht mehr
Empfindung, Kenntniß und Willkühr der Werkzeuge,
Kräfte, Natur und Endzweckes statt hat, als man
dem Mastdarm des Menschen zuschreiben wird, weil
er einem nicht zu festen Unrath eine regelmäßige, vier-
eckichte, an den Flächen, wie Zirkelschnitte eingebo-
gene, und an den Ecken gekerbte Gestalt giebt. "Ein
kleines Kind, sagt Tiedemann, weiß gewiß nicht was
Liebe ist, und welche Gegenstände es lieben muß, und
doch liebt es seine Mutter eben so inbrünstig, als ob
es die beste Abhandlung über die Liebe gelesen hätte."

In allen den von Reimarus und Seneka an-
geführten Beyspielen finde ich keins, wovon nicht et-
was ähnliches im Menschen angetroffen werde, ohne
daß man deßwegen jemals mit einigem Recht eine sol-

che

Muͤſſiges gemacht. — So bald ich mir dieſe Kraͤfte,
dieſe Richtung in den Bildungstrieb und die Organi-
ſation ſelbſt hinein denke, ſo bedarf ich durchaus keiner
inneren, wirkſamen Empfindung. Das Anſchießen zu
den herrlichſten, nach den ſtrengſten Geſetzen der Meß-
kunſt gebildeten Kryſtallen, der praͤchtige Bau der
Befruchtungswerkzeuge der Blume bey den Pflanzen,
die Selbſterſtattung der Gewaͤchſe und mancher Thiere,
das Gewebe der Spinne, die Zellen der unter drey
Einzelnheiten vertheilten Organiſation der Bienen,
die Staͤrke der Ameiſe, das Einſpinnen der Raupe,
das Haͤuten der Schlange, das Mauſen der Voͤgel,
und das Haͤaͤren der Thiere und Menſchen ſind eben
ſo viele, aus dem Bau, den darinn vereinten und
dadurch bewirkten Kraͤften eines jeden einzelnen Ge-
ſchoͤpfes entſpringende Erſcheinungen, wobey nicht mehr
Empfindung, Kenntniß und Willkuͤhr der Werkzeuge,
Kraͤfte, Natur und Endzweckes ſtatt hat, als man
dem Maſtdarm des Menſchen zuſchreiben wird, weil
er einem nicht zu feſten Unrath eine regelmaͤßige, vier-
eckichte, an den Flaͤchen, wie Zirkelſchnitte eingebo-
gene, und an den Ecken gekerbte Geſtalt giebt. “Ein
kleines Kind, ſagt Tiedemann, weiß gewiß nicht was
Liebe iſt, und welche Gegenſtaͤnde es lieben muß, und
doch liebt es ſeine Mutter eben ſo inbruͤnſtig, als ob
es die beſte Abhandlung uͤber die Liebe geleſen haͤtte.„

In allen den von Reimarus und Seneka an-
gefuͤhrten Beyſpielen finde ich keins, wovon nicht et-
was aͤhnliches im Menſchen angetroffen werde, ohne
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[95/0114] Muͤſſiges gemacht. — So bald ich mir dieſe Kraͤfte, dieſe Richtung in den Bildungstrieb und die Organi- ſation ſelbſt hinein denke, ſo bedarf ich durchaus keiner inneren, wirkſamen Empfindung. Das Anſchießen zu den herrlichſten, nach den ſtrengſten Geſetzen der Meß- kunſt gebildeten Kryſtallen, der praͤchtige Bau der Befruchtungswerkzeuge der Blume bey den Pflanzen, die Selbſterſtattung der Gewaͤchſe und mancher Thiere, das Gewebe der Spinne, die Zellen der unter drey Einzelnheiten vertheilten Organiſation der Bienen, die Staͤrke der Ameiſe, das Einſpinnen der Raupe, das Haͤuten der Schlange, das Mauſen der Voͤgel, und das Haͤaͤren der Thiere und Menſchen ſind eben ſo viele, aus dem Bau, den darinn vereinten und dadurch bewirkten Kraͤften eines jeden einzelnen Ge- ſchoͤpfes entſpringende Erſcheinungen, wobey nicht mehr Empfindung, Kenntniß und Willkuͤhr der Werkzeuge, Kraͤfte, Natur und Endzweckes ſtatt hat, als man dem Maſtdarm des Menſchen zuſchreiben wird, weil er einem nicht zu feſten Unrath eine regelmaͤßige, vier- eckichte, an den Flaͤchen, wie Zirkelſchnitte eingebo- gene, und an den Ecken gekerbte Geſtalt giebt. “Ein kleines Kind, ſagt Tiedemann, weiß gewiß nicht was Liebe iſt, und welche Gegenſtaͤnde es lieben muß, und doch liebt es ſeine Mutter eben ſo inbruͤnſtig, als ob es die beſte Abhandlung uͤber die Liebe geleſen haͤtte.„ In allen den von Reimarus und Seneka an- gefuͤhrten Beyſpielen finde ich keins, wovon nicht et- was aͤhnliches im Menſchen angetroffen werde, ohne daß man deßwegen jemals mit einigem Recht eine ſol- che

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/114>, abgerufen am 18.05.2024.