Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Gefühl das vornehmste Erweckungsmittel des Begat-
tungstriebes zu seyn; obschon es, und zwar beym Men-
schen auffallend gewiß ist, daß vorhergehende oder zur
gleichen Zeit eintrettende Vorstellungen, Gewohnheit,
Neuheit, willkührliche Ab- und Zuneigung, Einbil-
dungskraft, Grundsätze u. d. gl., über alle sinnliche
Eindrücke, so lange wir gesund sind, eine große Herr-
schaft haben. Hingegen werden auch die Wirkungen
der sinnlichen Eindrücke durch Erziehung, Alter, Ge-
schlecht, durch den gegenwärtigen Gesundheitsstand,
durch Uebung u. d. gl. unendlich verändert.

Die bloßen Vorstellungen veranlassen nicht sel-
ten eben so starke, ja stärkere Wirkungen, als der sinn-
liche Eindruck. Wenn wir uns wegen Entdeckung ei-
ner eignen oder fremden Unvollkommenheit schämen, so
kehrt sich die Bewegung des Blutes in den Blutadern
um; wir erröthen mit einer empfindlichen Wärme
über das Gesicht, die Brust, zuweilen über den gan-
zen Körper. Haben wir's in der Vorstellung, z. B.
beim Briefschreiben, mit einem Feinde zu thun, so
stellen sich uns häufige Bilder in gedrängter Eile dar;
alle willkührlichen Muskeln werden gespannt; wir
drohen, ballen die Fäuste, schlagen auf den Tisch,
und drücken die Füsse fest gegen den Boden an, oder
springen wüthend vom Stuhle auf, stampfen, ergreif-
fen ihn, wir beissen die Zähne fest übereinander, wer-
fen die untere Lippe über die obere empor, runzeln
die Stirne; der ganze Leib, vorzüglich der Kopf glüht,
ist hochroth, glänzt, die Augen stehen starr unter den
übergeworfenen Augenbraunen und funkeln vor Feuer,

die

Gefuͤhl das vornehmſte Erweckungsmittel des Begat-
tungstriebes zu ſeyn; obſchon es, und zwar beym Men-
ſchen auffallend gewiß iſt, daß vorhergehende oder zur
gleichen Zeit eintrettende Vorſtellungen, Gewohnheit,
Neuheit, willkuͤhrliche Ab- und Zuneigung, Einbil-
dungskraft, Grundſaͤtze u. d. gl., uͤber alle ſinnliche
Eindruͤcke, ſo lange wir geſund ſind, eine große Herr-
ſchaft haben. Hingegen werden auch die Wirkungen
der ſinnlichen Eindruͤcke durch Erziehung, Alter, Ge-
ſchlecht, durch den gegenwaͤrtigen Geſundheitsſtand,
durch Uebung u. d. gl. unendlich veraͤndert.

Die bloßen Vorſtellungen veranlaſſen nicht ſel-
ten eben ſo ſtarke, ja ſtaͤrkere Wirkungen, als der ſinn-
liche Eindruck. Wenn wir uns wegen Entdeckung ei-
ner eignen oder fremden Unvollkommenheit ſchaͤmen, ſo
kehrt ſich die Bewegung des Blutes in den Blutadern
um; wir erroͤthen mit einer empfindlichen Waͤrme
uͤber das Geſicht, die Bruſt, zuweilen uͤber den gan-
zen Koͤrper. Haben wir’s in der Vorſtellung, z. B.
beim Briefſchreiben, mit einem Feinde zu thun, ſo
ſtellen ſich uns haͤufige Bilder in gedraͤngter Eile dar;
alle willkuͤhrlichen Muskeln werden geſpannt; wir
drohen, ballen die Faͤuſte, ſchlagen auf den Tiſch,
und druͤcken die Fuͤſſe feſt gegen den Boden an, oder
ſpringen wuͤthend vom Stuhle auf, ſtampfen, ergreif-
fen ihn, wir beiſſen die Zaͤhne feſt uͤbereinander, wer-
fen die untere Lippe uͤber die obere empor, runzeln
die Stirne; der ganze Leib, vorzuͤglich der Kopf gluͤht,
iſt hochroth, glaͤnzt, die Augen ſtehen ſtarr unter den
uͤbergeworfenen Augenbraunen und funkeln vor Feuer,

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0197" n="178"/>
Gefu&#x0364;hl das vornehm&#x017F;te Erweckungsmittel des Begat-<lb/>
tungstriebes zu &#x017F;eyn; ob&#x017F;chon es, und zwar beym Men-<lb/>
&#x017F;chen auffallend gewiß i&#x017F;t, daß vorhergehende oder zur<lb/>
gleichen Zeit eintrettende Vor&#x017F;tellungen, Gewohnheit,<lb/>
Neuheit, willku&#x0364;hrliche Ab- und Zuneigung, Einbil-<lb/>
dungskraft, Grund&#x017F;a&#x0364;tze u. d. gl., u&#x0364;ber alle &#x017F;innliche<lb/>
Eindru&#x0364;cke, &#x017F;o lange wir ge&#x017F;und &#x017F;ind, eine große Herr-<lb/>
&#x017F;chaft haben. Hingegen werden auch die Wirkungen<lb/>
der &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke durch Erziehung, Alter, Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht, durch den gegenwa&#x0364;rtigen Ge&#x017F;undheits&#x017F;tand,<lb/>
durch Uebung u. d. gl. unendlich vera&#x0364;ndert.</p><lb/>
              <p>Die bloßen Vor&#x017F;tellungen veranla&#x017F;&#x017F;en nicht &#x017F;el-<lb/>
ten eben &#x017F;o &#x017F;tarke, ja &#x017F;ta&#x0364;rkere Wirkungen, als der &#x017F;inn-<lb/>
liche Eindruck. Wenn wir uns wegen Entdeckung ei-<lb/>
ner eignen oder fremden Unvollkommenheit &#x017F;cha&#x0364;men, &#x017F;o<lb/>
kehrt &#x017F;ich die Bewegung des Blutes in den Blutadern<lb/>
um; wir erro&#x0364;then mit einer empfindlichen Wa&#x0364;rme<lb/>
u&#x0364;ber das Ge&#x017F;icht, die Bru&#x017F;t, zuweilen u&#x0364;ber den gan-<lb/>
zen Ko&#x0364;rper. Haben wir&#x2019;s in der Vor&#x017F;tellung, z. B.<lb/>
beim Brief&#x017F;chreiben, mit einem Feinde zu thun, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tellen &#x017F;ich uns ha&#x0364;ufige Bilder in gedra&#x0364;ngter Eile dar;<lb/>
alle willku&#x0364;hrlichen Muskeln werden ge&#x017F;pannt; wir<lb/>
drohen, ballen die Fa&#x0364;u&#x017F;te, &#x017F;chlagen auf den Ti&#x017F;ch,<lb/>
und dru&#x0364;cken die Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e fe&#x017F;t gegen den Boden an, oder<lb/>
&#x017F;pringen wu&#x0364;thend vom Stuhle auf, &#x017F;tampfen, ergreif-<lb/>
fen ihn, wir bei&#x017F;&#x017F;en die Za&#x0364;hne fe&#x017F;t u&#x0364;bereinander, wer-<lb/>
fen die untere Lippe u&#x0364;ber die obere empor, runzeln<lb/>
die Stirne; der ganze Leib, vorzu&#x0364;glich der Kopf glu&#x0364;ht,<lb/>
i&#x017F;t hochroth, gla&#x0364;nzt, die Augen &#x017F;tehen &#x017F;tarr unter den<lb/>
u&#x0364;bergeworfenen Augenbraunen und funkeln vor Feuer,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0197] Gefuͤhl das vornehmſte Erweckungsmittel des Begat- tungstriebes zu ſeyn; obſchon es, und zwar beym Men- ſchen auffallend gewiß iſt, daß vorhergehende oder zur gleichen Zeit eintrettende Vorſtellungen, Gewohnheit, Neuheit, willkuͤhrliche Ab- und Zuneigung, Einbil- dungskraft, Grundſaͤtze u. d. gl., uͤber alle ſinnliche Eindruͤcke, ſo lange wir geſund ſind, eine große Herr- ſchaft haben. Hingegen werden auch die Wirkungen der ſinnlichen Eindruͤcke durch Erziehung, Alter, Ge- ſchlecht, durch den gegenwaͤrtigen Geſundheitsſtand, durch Uebung u. d. gl. unendlich veraͤndert. Die bloßen Vorſtellungen veranlaſſen nicht ſel- ten eben ſo ſtarke, ja ſtaͤrkere Wirkungen, als der ſinn- liche Eindruck. Wenn wir uns wegen Entdeckung ei- ner eignen oder fremden Unvollkommenheit ſchaͤmen, ſo kehrt ſich die Bewegung des Blutes in den Blutadern um; wir erroͤthen mit einer empfindlichen Waͤrme uͤber das Geſicht, die Bruſt, zuweilen uͤber den gan- zen Koͤrper. Haben wir’s in der Vorſtellung, z. B. beim Briefſchreiben, mit einem Feinde zu thun, ſo ſtellen ſich uns haͤufige Bilder in gedraͤngter Eile dar; alle willkuͤhrlichen Muskeln werden geſpannt; wir drohen, ballen die Faͤuſte, ſchlagen auf den Tiſch, und druͤcken die Fuͤſſe feſt gegen den Boden an, oder ſpringen wuͤthend vom Stuhle auf, ſtampfen, ergreif- fen ihn, wir beiſſen die Zaͤhne feſt uͤbereinander, wer- fen die untere Lippe uͤber die obere empor, runzeln die Stirne; der ganze Leib, vorzuͤglich der Kopf gluͤht, iſt hochroth, glaͤnzt, die Augen ſtehen ſtarr unter den uͤbergeworfenen Augenbraunen und funkeln vor Feuer, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/197
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/197>, abgerufen am 24.11.2024.