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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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ling die mindeste nachtheilige Veränderung davon er-
litte.

Nicht lange hernach verschlückte sie eine Nadel,
die in der Zungenwurzel stecken blieb. Man suchte
sie öfters, nicht ohne grosse Schmerzen, aber immer
vergebens heraus zu ziehen; das Schlingen ward höchst
beschwerlich; endlich schwürte sie nach vier Wochen
heraus. Aller dieser Schrecken, Schmerz und Angst,
hatten noch immer nicht den geringsten Einfluß auf
den Säugling; er nahm zu, war ruhig und munter.
Man sieht sogar alle Tage, daß der heftigste Zorn
solcher Menschen, deren Schwielen in den Händen sich
gleichsam auf die Nerven zu erstrecken scheinen, sel-
ten eine schädliche Veränderung bey ihrem Säuglinge
erregt.

Welch ein Vorzug, fährt Kämpf fort, haben
also nicht solche unerschütterlichen Säugammen, de-
ren eigne Verdauungswerkzeuge den unverdaulichsten
Speisen Trotz bieten, und einen milden, reinen, wohl
gemischten und dichten Nahrungssaft daraus zuberei-
ten, der die beste Anlage zu einem kernhaften Welt-
bürger abgiebt, gegen die empfindsamen, reitzbaren,
weichlichen Mütter, die durch den Anblick einer
Spinne, durch den Genuß eines Tellervoll Kohls,
und durch einen kleinen Haußzorn u. s. w. ihr säugen-
des Kind unglücklich machen.

Ferner hat er wahrgenommen, daß diejenigen,
die rauh erzogen, und an harte Kost gewöhnt waren,
und sich auch während ihrer Unpäßlichkeit daran ge-
halten hatten, weit seltner als die Weichlinge den

An-

ling die mindeſte nachtheilige Veraͤnderung davon er-
litte.

Nicht lange hernach verſchluͤckte ſie eine Nadel,
die in der Zungenwurzel ſtecken blieb. Man ſuchte
ſie oͤfters, nicht ohne groſſe Schmerzen, aber immer
vergebens heraus zu ziehen; das Schlingen ward hoͤchſt
beſchwerlich; endlich ſchwuͤrte ſie nach vier Wochen
heraus. Aller dieſer Schrecken, Schmerz und Angſt,
hatten noch immer nicht den geringſten Einfluß auf
den Saͤugling; er nahm zu, war ruhig und munter.
Man ſieht ſogar alle Tage, daß der heftigſte Zorn
ſolcher Menſchen, deren Schwielen in den Haͤnden ſich
gleichſam auf die Nerven zu erſtrecken ſcheinen, ſel-
ten eine ſchaͤdliche Veraͤnderung bey ihrem Saͤuglinge
erregt.

Welch ein Vorzug, faͤhrt Kämpf fort, haben
alſo nicht ſolche unerſchuͤtterlichen Saͤugammen, de-
ren eigne Verdauungswerkzeuge den unverdaulichſten
Speiſen Trotz bieten, und einen milden, reinen, wohl
gemiſchten und dichten Nahrungsſaft daraus zuberei-
ten, der die beſte Anlage zu einem kernhaften Welt-
buͤrger abgiebt, gegen die empfindſamen, reitzbaren,
weichlichen Muͤtter, die durch den Anblick einer
Spinne, durch den Genuß eines Tellervoll Kohls,
und durch einen kleinen Haußzorn u. ſ. w. ihr ſaͤugen-
des Kind ungluͤcklich machen.

Ferner hat er wahrgenommen, daß diejenigen,
die rauh erzogen, und an harte Koſt gewoͤhnt waren,
und ſich auch waͤhrend ihrer Unpaͤßlichkeit daran ge-
halten hatten, weit ſeltner als die Weichlinge den

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[311/0330] ling die mindeſte nachtheilige Veraͤnderung davon er- litte. Nicht lange hernach verſchluͤckte ſie eine Nadel, die in der Zungenwurzel ſtecken blieb. Man ſuchte ſie oͤfters, nicht ohne groſſe Schmerzen, aber immer vergebens heraus zu ziehen; das Schlingen ward hoͤchſt beſchwerlich; endlich ſchwuͤrte ſie nach vier Wochen heraus. Aller dieſer Schrecken, Schmerz und Angſt, hatten noch immer nicht den geringſten Einfluß auf den Saͤugling; er nahm zu, war ruhig und munter. Man ſieht ſogar alle Tage, daß der heftigſte Zorn ſolcher Menſchen, deren Schwielen in den Haͤnden ſich gleichſam auf die Nerven zu erſtrecken ſcheinen, ſel- ten eine ſchaͤdliche Veraͤnderung bey ihrem Saͤuglinge erregt. Welch ein Vorzug, faͤhrt Kämpf fort, haben alſo nicht ſolche unerſchuͤtterlichen Saͤugammen, de- ren eigne Verdauungswerkzeuge den unverdaulichſten Speiſen Trotz bieten, und einen milden, reinen, wohl gemiſchten und dichten Nahrungsſaft daraus zuberei- ten, der die beſte Anlage zu einem kernhaften Welt- buͤrger abgiebt, gegen die empfindſamen, reitzbaren, weichlichen Muͤtter, die durch den Anblick einer Spinne, durch den Genuß eines Tellervoll Kohls, und durch einen kleinen Haußzorn u. ſ. w. ihr ſaͤugen- des Kind ungluͤcklich machen. Ferner hat er wahrgenommen, daß diejenigen, die rauh erzogen, und an harte Koſt gewoͤhnt waren, und ſich auch waͤhrend ihrer Unpaͤßlichkeit daran ge- halten hatten, weit ſeltner als die Weichlinge den An-

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/330>, abgerufen am 22.11.2024.