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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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unsere Urtheile und unsere Triebe bey Tugenden und Lastern
leitet; was den Bettelstab und den Szepter ins Gleich-
gewicht setzt; über die unsinnigsten Vorurtheile einen
heiligen Schleyer wirft, und Sklaverey und Freyheit,
Dummheit und Aufklärung zu gleichem Werth erhebt:
war zu allen Zeiten ein wichtiger Gegenstand für die
Philosophen, und verdient auch in vielerley Rücksicht,
von den Aerzten untersucht zu werden.

Diese haben sich aber bisher mehr um die Er-
klärung als um die Erscheinungen, und deren Anwen-
dung auf die Heilkunde bekümmert. Indessen hat die
Gewohnheit sowohl auf den gesunden als kranken Zu-
stand einen so mächtigen Einfluß, daß derjenige, der
sie vernachläßigt, oft die wichtigste Begebenheit nicht
einsehen, und den schwersten Zufällen nicht abhelfen
kann.

Man seye an Arbeit, an Hitze und Kälte, an
Ruhe und Bewegung, an Schlaf und Wachen, an
die schnellsten und größten Veränderungen der Luft,
Witterung, Nahrung, Kleidung, an Nachsinnen,
an gewiße Nahrung, an betäubende Gifte, an gewis-
se Ausleerungen, an Beyschlaf, oder an was sonst
immer für eine Verrichtung gewöhnt, so erträgt man
alle diese Dinge entweder viel leichter, als der unge-
wöhnte, oder sie werden selbst zum Bedürfniß. Die
Perser ertragen innerhalb 24 Stunden zu zwey Quent-
chen
Mohnsaft; eben so viel verzehrte der Rechtsge-
lehrte, von dem Zimmermann redet, alle Tage.
Pallas fand unter den bey den Rußen eßbaren Schwäm-
men viele giftige. Galenus hat schon angemerkt,

daß

unſere Urtheile und unſere Triebe bey Tugenden und Laſtern
leitet; was den Bettelſtab und den Szepter ins Gleich-
gewicht ſetzt; uͤber die unſinnigſten Vorurtheile einen
heiligen Schleyer wirft, und Sklaverey und Freyheit,
Dummheit und Aufklaͤrung zu gleichem Werth erhebt:
war zu allen Zeiten ein wichtiger Gegenſtand fuͤr die
Philoſophen, und verdient auch in vielerley Ruͤckſicht,
von den Aerzten unterſucht zu werden.

Dieſe haben ſich aber bisher mehr um die Er-
klaͤrung als um die Erſcheinungen, und deren Anwen-
dung auf die Heilkunde bekuͤmmert. Indeſſen hat die
Gewohnheit ſowohl auf den geſunden als kranken Zu-
ſtand einen ſo maͤchtigen Einfluß, daß derjenige, der
ſie vernachlaͤßigt, oft die wichtigſte Begebenheit nicht
einſehen, und den ſchwerſten Zufaͤllen nicht abhelfen
kann.

Man ſeye an Arbeit, an Hitze und Kaͤlte, an
Ruhe und Bewegung, an Schlaf und Wachen, an
die ſchnellſten und groͤßten Veraͤnderungen der Luft,
Witterung, Nahrung, Kleidung, an Nachſinnen,
an gewiße Nahrung, an betaͤubende Gifte, an gewiſ-
ſe Ausleerungen, an Beyſchlaf, oder an was ſonſt
immer fuͤr eine Verrichtung gewoͤhnt, ſo ertraͤgt man
alle dieſe Dinge entweder viel leichter, als der unge-
woͤhnte, oder ſie werden ſelbſt zum Beduͤrfniß. Die
Perſer ertragen innerhalb 24 Stunden zu zwey Quent-
chen
Mohnſaft; eben ſo viel verzehrte der Rechtsge-
lehrte, von dem Zimmermann redet, alle Tage.
Pallas fand unter den bey den Rußen eßbaren Schwaͤm-
men viele giftige. Galenus hat ſchon angemerkt,

daß
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[632/0651] unſere Urtheile und unſere Triebe bey Tugenden und Laſtern leitet; was den Bettelſtab und den Szepter ins Gleich- gewicht ſetzt; uͤber die unſinnigſten Vorurtheile einen heiligen Schleyer wirft, und Sklaverey und Freyheit, Dummheit und Aufklaͤrung zu gleichem Werth erhebt: war zu allen Zeiten ein wichtiger Gegenſtand fuͤr die Philoſophen, und verdient auch in vielerley Ruͤckſicht, von den Aerzten unterſucht zu werden. Dieſe haben ſich aber bisher mehr um die Er- klaͤrung als um die Erſcheinungen, und deren Anwen- dung auf die Heilkunde bekuͤmmert. Indeſſen hat die Gewohnheit ſowohl auf den geſunden als kranken Zu- ſtand einen ſo maͤchtigen Einfluß, daß derjenige, der ſie vernachlaͤßigt, oft die wichtigſte Begebenheit nicht einſehen, und den ſchwerſten Zufaͤllen nicht abhelfen kann. Man ſeye an Arbeit, an Hitze und Kaͤlte, an Ruhe und Bewegung, an Schlaf und Wachen, an die ſchnellſten und groͤßten Veraͤnderungen der Luft, Witterung, Nahrung, Kleidung, an Nachſinnen, an gewiße Nahrung, an betaͤubende Gifte, an gewiſ- ſe Ausleerungen, an Beyſchlaf, oder an was ſonſt immer fuͤr eine Verrichtung gewoͤhnt, ſo ertraͤgt man alle dieſe Dinge entweder viel leichter, als der unge- woͤhnte, oder ſie werden ſelbſt zum Beduͤrfniß. Die Perſer ertragen innerhalb 24 Stunden zu zwey Quent- chen Mohnſaft; eben ſo viel verzehrte der Rechtsge- lehrte, von dem Zimmermann redet, alle Tage. Pallas fand unter den bey den Rußen eßbaren Schwaͤm- men viele giftige. Galenus hat ſchon angemerkt, daß

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/651>, abgerufen am 22.11.2024.