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Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889.

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R. Montagnei Bel., R. phycopsis Achar.), welche am Cap Verde auf den
Cap-Verdischen Inseln, den Azoren etc. gesammelt werden. Auch einige an-
dere Flechtengattungen (Lecanara, Usnea, Unceolaria, Gyrophora, Ramalina
Evernia, Variolaria)
lieferten Orseille und Persio, in neuerer Zeit benutzt
man in Frankreich jedoch fast nur die erstgenannten. Alle diese Flechten
kommen unter den Namen "Krautorseille" oder "Erdorseille" in den Handel.

Gewinnung. Die gesammelten Flechten werden gereinigt, getrocknet,
dann in Trommeln gepulvert oder auf Mühlen gemahlen. Das erhaltene
Pulver wird mit faulem Urin zu einem dicken Brei angerührt, dieser der
Luft ausgesetzt und unter jeweiligem Zusatz von gebranntem Kalk und Durch-
rühren der Masse der Fäulnis überlassen. Der Kalkzusatz hat den Zweck,
das im faulenden Harn enthaltene kohlensaure Ammoniak in Aetzammoniak
umzuwandeln. Nach acht Tagen ist eine lebhaft violettrote Farbe erzeugt,
welche nach 14 Tagen noch schöner wird; dabei entwickelt sich ein eigen-
tümlicher veilchenartiger Geruch. Nach Grothe sollen auch bisweilen --
zur Erzielung anderweiter Nüancen -- Salmiak, Salpeter, Alaun oder
arsenige Säure zugesetzt werden. Nach 4 bis 6 Wochen ist die Farbe voll
entwickelt. Dieses rötliche, veilchenähnlich riechende, alkalisch schmeckende
Produkt ist die Orseille des Handels*). Wird der Teig an warmer Luft,
oder im Schatten in dünnen Schichten ausgebreitet, getrocknet und in ein
feines Pulver verwandelt, so entsteht der Persio oder Cudbear, oder
roter Indigo, ein rötlich-violettes Pulver. Der Persio wird vornehmlich in
Süddeutschland, Frankreich und England fabriziert.

Orseillefarbstoffe. Das färbende Prinzip der Orseille und des
Persio ist das Orcein. Dieser Farbstoff ist in den Flechten nicht fertig ge-
bildet, sondern bildet sich erst während der Fäulnis. Die Flechten nämlich,
welche zur Darstellung von Farbstoffen dienen können, enthalten sämtlich eine
bestimmte Menge diesen Flechten eigentümlicher Säuren, welche den
Namen Flechtensäuren führen und die, je nach der Flechte, von der sie
stammen, bezeichnet werden als Lecanorsäure, Evernsäure, Erythrinsäure,
Usninsäure u. s. w. Diese Flechtensäuren spielen in den Flechten aber
nicht die Rolle eines Chromogens, sondern sie bilden erst den Aus-
gangspunkt zur Entwickelung des Chromogens
. Die Produkte,
welche die verschiedenen Flechtensäuren beim Kochen mit Wasser liefern, sind
sehr verschiedener Art; allen gemeinsam ist das Orcin, C7 H8 O2, das
eigentliche stickstofffreie Chromogen der Flechten; dasselbe bildet sich unter
Wasseraufnahme oder unter Wasserabspaltung und fast stets unter Abspal-
tung von Kohlensäure. Nach den neuesten Forschungen ist das Orcin ein
Toluolderivat und zwar Dioxytoluol. Bei der Gärung der Flechten mit
Urin wird z. B. die Lecanorsäure zuerst durch Wasseraufnahme in Orsellin-
säure verwandelt:
[Formel 1] Lecanorsäure Wasser Orsellinsäure;

*) Diese vorsündflutliche Methode sollte man doch lieber durch eine einfachere
und zeitgemäßere ersetzen: Extrahieren der Flechten mit verdünnter kalter Natronlauge,
und Fällen mit Salzsäure. Man erhält so die Flechtensäuren als weißen Nieder-
schlag, welchen man nur in ammoniakalischem Wasser zu lösen und der Luft aus-
zusetzen braucht, um direkt zu den reinen Farbstofflösungen zu gelangen.
Der Verf.

R. Montagnei Bel., R. phycopsis Achar.), welche am Cap Verde auf den
Cap-Verdiſchen Inſeln, den Azoren ꝛc. geſammelt werden. Auch einige an-
dere Flechtengattungen (Lecanara, Usnea, Unceolaria, Gyrophora, Ramalina
Evernia, Variolaria)
lieferten Orſeille und Perſio, in neuerer Zeit benutzt
man in Frankreich jedoch faſt nur die erſtgenannten. Alle dieſe Flechten
kommen unter den Namen „Krautorſeille“ oder „Erdorſeille“ in den Handel.

Gewinnung. Die geſammelten Flechten werden gereinigt, getrocknet,
dann in Trommeln gepulvert oder auf Mühlen gemahlen. Das erhaltene
Pulver wird mit faulem Urin zu einem dicken Brei angerührt, dieſer der
Luft ausgeſetzt und unter jeweiligem Zuſatz von gebranntem Kalk und Durch-
rühren der Maſſe der Fäulnis überlaſſen. Der Kalkzuſatz hat den Zweck,
das im faulenden Harn enthaltene kohlenſaure Ammoniak in Aetzammoniak
umzuwandeln. Nach acht Tagen iſt eine lebhaft violettrote Farbe erzeugt,
welche nach 14 Tagen noch ſchöner wird; dabei entwickelt ſich ein eigen-
tümlicher veilchenartiger Geruch. Nach Grothe ſollen auch bisweilen —
zur Erzielung anderweiter Nüancen — Salmiak, Salpeter, Alaun oder
arſenige Säure zugeſetzt werden. Nach 4 bis 6 Wochen iſt die Farbe voll
entwickelt. Dieſes rötliche, veilchenähnlich riechende, alkaliſch ſchmeckende
Produkt iſt die Orſeille des Handels*). Wird der Teig an warmer Luft,
oder im Schatten in dünnen Schichten ausgebreitet, getrocknet und in ein
feines Pulver verwandelt, ſo entſteht der Perſio oder Cudbear, oder
roter Indigo, ein rötlich-violettes Pulver. Der Perſio wird vornehmlich in
Süddeutſchland, Frankreich und England fabriziert.

Orſeillefarbſtoffe. Das färbende Prinzip der Orſeille und des
Perſio iſt das Orceïn. Dieſer Farbſtoff iſt in den Flechten nicht fertig ge-
bildet, ſondern bildet ſich erſt während der Fäulnis. Die Flechten nämlich,
welche zur Darſtellung von Farbſtoffen dienen können, enthalten ſämtlich eine
beſtimmte Menge dieſen Flechten eigentümlicher Säuren, welche den
Namen Flechtenſäuren führen und die, je nach der Flechte, von der ſie
ſtammen, bezeichnet werden als Lecanorſäure, Evernſäure, Erythrinſäure,
Usninſäure u. ſ. w. Dieſe Flechtenſäuren ſpielen in den Flechten aber
nicht die Rolle eines Chromogens, ſondern ſie bilden erſt den Aus-
gangspunkt zur Entwickelung des Chromogens
. Die Produkte,
welche die verſchiedenen Flechtenſäuren beim Kochen mit Waſſer liefern, ſind
ſehr verſchiedener Art; allen gemeinſam iſt das Orcin, C7 H8 O2, das
eigentliche ſtickſtofffreie Chromogen der Flechten; dasſelbe bildet ſich unter
Waſſeraufnahme oder unter Waſſerabſpaltung und faſt ſtets unter Abſpal-
tung von Kohlenſäure. Nach den neueſten Forſchungen iſt das Orcin ein
Toluolderivat und zwar Dioxytoluol. Bei der Gärung der Flechten mit
Urin wird z. B. die Lecanorſäure zuerſt durch Waſſeraufnahme in Orſellin-
ſäure verwandelt:
[Formel 1] Lecanorſäure Waſſer Orſellinſäure;

*) Dieſe vorſündflutliche Methode ſollte man doch lieber durch eine einfachere
und zeitgemäßere erſetzen: Extrahieren der Flechten mit verdünnter kalter Natronlauge,
und Fällen mit Salzſäure. Man erhält ſo die Flechtenſäuren als weißen Nieder-
ſchlag, welchen man nur in ammoniakaliſchem Waſſer zu löſen und der Luft aus-
zuſetzen braucht, um direkt zu den reinen Farbſtofflöſungen zu gelangen.
Der Verf.
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[106/0132] R. Montagnei Bel., R. phycopsis Achar.), welche am Cap Verde auf den Cap-Verdiſchen Inſeln, den Azoren ꝛc. geſammelt werden. Auch einige an- dere Flechtengattungen (Lecanara, Usnea, Unceolaria, Gyrophora, Ramalina Evernia, Variolaria) lieferten Orſeille und Perſio, in neuerer Zeit benutzt man in Frankreich jedoch faſt nur die erſtgenannten. Alle dieſe Flechten kommen unter den Namen „Krautorſeille“ oder „Erdorſeille“ in den Handel. Gewinnung. Die geſammelten Flechten werden gereinigt, getrocknet, dann in Trommeln gepulvert oder auf Mühlen gemahlen. Das erhaltene Pulver wird mit faulem Urin zu einem dicken Brei angerührt, dieſer der Luft ausgeſetzt und unter jeweiligem Zuſatz von gebranntem Kalk und Durch- rühren der Maſſe der Fäulnis überlaſſen. Der Kalkzuſatz hat den Zweck, das im faulenden Harn enthaltene kohlenſaure Ammoniak in Aetzammoniak umzuwandeln. Nach acht Tagen iſt eine lebhaft violettrote Farbe erzeugt, welche nach 14 Tagen noch ſchöner wird; dabei entwickelt ſich ein eigen- tümlicher veilchenartiger Geruch. Nach Grothe ſollen auch bisweilen — zur Erzielung anderweiter Nüancen — Salmiak, Salpeter, Alaun oder arſenige Säure zugeſetzt werden. Nach 4 bis 6 Wochen iſt die Farbe voll entwickelt. Dieſes rötliche, veilchenähnlich riechende, alkaliſch ſchmeckende Produkt iſt die Orſeille des Handels *). Wird der Teig an warmer Luft, oder im Schatten in dünnen Schichten ausgebreitet, getrocknet und in ein feines Pulver verwandelt, ſo entſteht der Perſio oder Cudbear, oder roter Indigo, ein rötlich-violettes Pulver. Der Perſio wird vornehmlich in Süddeutſchland, Frankreich und England fabriziert. Orſeillefarbſtoffe. Das färbende Prinzip der Orſeille und des Perſio iſt das Orceïn. Dieſer Farbſtoff iſt in den Flechten nicht fertig ge- bildet, ſondern bildet ſich erſt während der Fäulnis. Die Flechten nämlich, welche zur Darſtellung von Farbſtoffen dienen können, enthalten ſämtlich eine beſtimmte Menge dieſen Flechten eigentümlicher Säuren, welche den Namen Flechtenſäuren führen und die, je nach der Flechte, von der ſie ſtammen, bezeichnet werden als Lecanorſäure, Evernſäure, Erythrinſäure, Usninſäure u. ſ. w. Dieſe Flechtenſäuren ſpielen in den Flechten aber nicht die Rolle eines Chromogens, ſondern ſie bilden erſt den Aus- gangspunkt zur Entwickelung des Chromogens. Die Produkte, welche die verſchiedenen Flechtenſäuren beim Kochen mit Waſſer liefern, ſind ſehr verſchiedener Art; allen gemeinſam iſt das Orcin, C7 H8 O2, das eigentliche ſtickſtofffreie Chromogen der Flechten; dasſelbe bildet ſich unter Waſſeraufnahme oder unter Waſſerabſpaltung und faſt ſtets unter Abſpal- tung von Kohlenſäure. Nach den neueſten Forſchungen iſt das Orcin ein Toluolderivat und zwar Dioxytoluol. Bei der Gärung der Flechten mit Urin wird z. B. die Lecanorſäure zuerſt durch Waſſeraufnahme in Orſellin- ſäure verwandelt: [FORMEL] Lecanorſäure Waſſer Orſellinſäure; *) Dieſe vorſündflutliche Methode ſollte man doch lieber durch eine einfachere und zeitgemäßere erſetzen: Extrahieren der Flechten mit verdünnter kalter Natronlauge, und Fällen mit Salzſäure. Man erhält ſo die Flechtenſäuren als weißen Nieder- ſchlag, welchen man nur in ammoniakaliſchem Waſſer zu löſen und der Luft aus- zuſetzen braucht, um direkt zu den reinen Farbſtofflöſungen zu gelangen. Der Verf.

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Zitationshilfe: Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ganswindt_faerberei_1889/132>, abgerufen am 27.11.2024.