Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.Verschiedenheiten in den Werken ohne viel Unterricht. Aber desto mehr Gelegen-heit, Muße und Auffoderung hatte er, seine Sinne zu brauchen. Was hernach sein Verstand mit den dergestalt gesammleten Ideen anfangen sollte, das hieng noch weit weniger von der Leitung und dem Beyspiele anderer, als von dem natürlichen Hange und den freywilligen Bewegungen eines jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom Menschen kannte, das hatte er selbst an ihr gese- hen. So oft er davon redete, so stund vor sei- ner Einbildungskraft wieder die Person, der Vor- fall, die Begebenheit, an der er zuerst diese Be- schaffenheit oder dieses Verhältniß wahrgenom- men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota- goras System, noch jeder Mensch seine eigene Wahrheit. -- Bey uns hingegen kömmt der Un- terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na- men sind nicht in dem Munde unsrer Kinder und Erwachsenen, ehe sie die Objekte gesehen haben, und die sie zum Theil niemals recht sehen. Wie viel Ausdrücke von Eigenschaften und Verhält- nissen der sichtbaren und moralischen Welt brau- Verſchiedenheiten in den Werken ohne viel Unterricht. Aber deſto mehr Gelegen-heit, Muße und Auffoderung hatte er, ſeine Sinne zu brauchen. Was hernach ſein Verſtand mit den dergeſtalt geſammleten Ideen anfangen ſollte, das hieng noch weit weniger von der Leitung und dem Beyſpiele anderer, als von dem natuͤrlichen Hange und den freywilligen Bewegungen eines jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom Menſchen kannte, das hatte er ſelbſt an ihr geſe- hen. So oft er davon redete, ſo ſtund vor ſei- ner Einbildungskraft wieder die Perſon, der Vor- fall, die Begebenheit, an der er zuerſt dieſe Be- ſchaffenheit oder dieſes Verhaͤltniß wahrgenom- men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota- goras Syſtem, noch jeder Menſch ſeine eigene Wahrheit. — Bey uns hingegen koͤmmt der Un- terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na- men ſind nicht in dem Munde unſrer Kinder und Erwachſenen, ehe ſie die Objekte geſehen haben, und die ſie zum Theil niemals recht ſehen. Wie viel Ausdruͤcke von Eigenſchaften und Verhaͤlt- niſſen der ſichtbaren und moraliſchen Welt brau- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0162" n="156"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Verſchiedenheiten in den Werken</hi></fw><lb/> ohne viel Unterricht. Aber deſto mehr Gelegen-<lb/> heit, Muße und Auffoderung hatte er, ſeine Sinne<lb/> zu brauchen. Was hernach ſein Verſtand mit<lb/> den dergeſtalt geſammleten Ideen anfangen ſollte,<lb/> das hieng noch weit weniger von der Leitung und<lb/> dem Beyſpiele anderer, als von dem natuͤrlichen<lb/> Hange und den freywilligen Bewegungen eines<lb/> jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom<lb/> Menſchen kannte, das hatte er ſelbſt an ihr geſe-<lb/> hen. So oft er davon redete, ſo ſtund vor ſei-<lb/> ner Einbildungskraft wieder die Perſon, der Vor-<lb/> fall, die Begebenheit, an der er zuerſt dieſe Be-<lb/> ſchaffenheit oder dieſes Verhaͤltniß wahrgenom-<lb/> men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota-<lb/> goras Syſtem, noch jeder Menſch ſeine eigene<lb/> Wahrheit. — Bey uns hingegen koͤmmt der Un-<lb/> terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na-<lb/> men ſind nicht in dem Munde unſrer Kinder und<lb/> Erwachſenen, ehe ſie die Objekte geſehen haben,<lb/> und die ſie zum Theil niemals recht ſehen. Wie<lb/> viel Ausdruͤcke von Eigenſchaften und Verhaͤlt-<lb/> niſſen der ſichtbaren und moraliſchen Welt brau-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [156/0162]
Verſchiedenheiten in den Werken
ohne viel Unterricht. Aber deſto mehr Gelegen-
heit, Muße und Auffoderung hatte er, ſeine Sinne
zu brauchen. Was hernach ſein Verſtand mit
den dergeſtalt geſammleten Ideen anfangen ſollte,
das hieng noch weit weniger von der Leitung und
dem Beyſpiele anderer, als von dem natuͤrlichen
Hange und den freywilligen Bewegungen eines
jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom
Menſchen kannte, das hatte er ſelbſt an ihr geſe-
hen. So oft er davon redete, ſo ſtund vor ſei-
ner Einbildungskraft wieder die Perſon, der Vor-
fall, die Begebenheit, an der er zuerſt dieſe Be-
ſchaffenheit oder dieſes Verhaͤltniß wahrgenom-
men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota-
goras Syſtem, noch jeder Menſch ſeine eigene
Wahrheit. — Bey uns hingegen koͤmmt der Un-
terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na-
men ſind nicht in dem Munde unſrer Kinder und
Erwachſenen, ehe ſie die Objekte geſehen haben,
und die ſie zum Theil niemals recht ſehen. Wie
viel Ausdruͤcke von Eigenſchaften und Verhaͤlt-
niſſen der ſichtbaren und moraliſchen Welt brau-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |