Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Verschiedenheiten in den Werken
die Erdichtungen oder selbst die Geschichten, die
die Dichter bearbeiten, können auf uns keine an-
dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen,
in so fern es menschliche Begebenheiten sind; wir
müssen also nothwendig von einer andern Seite
den Eindruck verstärken, der ihnen von der einen
abgeht. Unser Verstand und unser Herz sind
dem Vergnügen verschlossen, das dem Griechen die
Thaten seiner ältesten Helden, durch seine ältesten
Weisen beschrieben, machen mußten; aber beide
stehen immer noch dem Vergnügen offen, das
mannichfaltige und lebhafte Ideen oder gesell-
schaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unser
Dichter muß nothwendig mehr Absichten sich vor-
setzen, als sein Werk unmittelbar ankündigt.

Bey der Bildung unserer neuen Dichtkunst ist
ein Streit von entgegenwirkenden Ursachen merk-
lich. Durch die Bewunderung, die man für die
Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der-
selben gezogen, man suchte, so viel man konnte,
sich in ihre Zeit und Umstände zu versetzen, ihre
Denkungsart anzunehmen, und sah die Aehnlich-

Verſchiedenheiten in den Werken
die Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die
die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an-
dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen,
in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir
muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite
den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen
abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind
dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die
Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten
Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide
ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das
mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell-
ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer
Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor-
ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt.

Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt
ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk-
lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die
Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der-
ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte,
ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre
Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0190" n="184"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ver&#x017F;chiedenheiten in den Werken</hi></fw><lb/>
die Erdichtungen oder &#x017F;elb&#x017F;t die Ge&#x017F;chichten, die<lb/>
die Dichter bearbeiten, ko&#x0364;nnen auf uns keine an-<lb/>
dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen,<lb/>
in &#x017F;o fern es men&#x017F;chliche Begebenheiten &#x017F;ind; wir<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en al&#x017F;o nothwendig von einer andern Seite<lb/>
den Eindruck ver&#x017F;ta&#x0364;rken, der ihnen von der einen<lb/>
abgeht. Un&#x017F;er Ver&#x017F;tand und un&#x017F;er Herz &#x017F;ind<lb/>
dem Vergnu&#x0364;gen ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, das dem Griechen die<lb/>
Thaten &#x017F;einer a&#x0364;lte&#x017F;ten Helden, durch &#x017F;eine a&#x0364;lte&#x017F;ten<lb/>
Wei&#x017F;en be&#x017F;chrieben, machen mußten; aber beide<lb/>
&#x017F;tehen immer noch dem Vergnu&#x0364;gen offen, das<lb/>
mannichfaltige und lebhafte Ideen oder ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftliche Neigungen in ihnen erregen. Un&#x017F;er<lb/>
Dichter muß nothwendig mehr Ab&#x017F;ichten &#x017F;ich vor-<lb/>
&#x017F;etzen, als &#x017F;ein Werk unmittelbar anku&#x0364;ndigt.</p><lb/>
        <p>Bey der Bildung un&#x017F;erer neuen Dichtkun&#x017F;t i&#x017F;t<lb/>
ein Streit von entgegenwirkenden Ur&#x017F;achen merk-<lb/>
lich. Durch die Bewunderung, die man fu&#x0364;r die<lb/>
Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der-<lb/>
&#x017F;elben gezogen, man &#x017F;uchte, &#x017F;o viel man konnte,<lb/>
&#x017F;ich in ihre Zeit und Um&#x017F;ta&#x0364;nde zu ver&#x017F;etzen, ihre<lb/>
Denkungsart anzunehmen, und &#x017F;ah die Aehnlich-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0190] Verſchiedenheiten in den Werken die Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an- dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen, in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell- ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor- ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt. Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk- lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der- ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte, ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/190
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/190>, abgerufen am 21.11.2024.