alsdann an, wenn diese Gedanken Folgen ande- rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der Reflexion und des Nachdenkens sind. Aber wenn sie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent- stehen scheinen, wenn sich die veranlassenden hö- hern oder frühern Ideen nicht finden, selbst von dem Menschen, der jene hat, nicht bemerken las- sen: dann ist, so wie allenthalben, wo wir in unserer Erklärung der Phänomene nicht mehr Wirkungen aus Wirkungen herleiten können, son- dern bis zur wirkenden Kraft selbst kommen, un- sere Untersuchung zu Ende. Und gerade diese letzte Art vortrefflicher Gedanken ist es, die wir dem Genie zuschreiben; gerade die Quelle solcher Ideen soll dieß Wort ausdrücken, die nicht durch Fleiß nach und nach ausgebildet worden, son- dern die aus dem Grunde der Seele plötzlich ent- sprungen sind.
Wenn wir also hier etwas erklären, und da- zu Ursachen aufsuchen wollen: so dürfen wir uns in der Seele selbst nicht mehr darnach umsehen; sondern wir müssen die Umstände des Menschen
Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
alsdann an, wenn dieſe Gedanken Folgen ande- rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der Reflexion und des Nachdenkens ſind. Aber wenn ſie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent- ſtehen ſcheinen, wenn ſich die veranlaſſenden hoͤ- hern oder fruͤhern Ideen nicht finden, ſelbſt von dem Menſchen, der jene hat, nicht bemerken laſ- ſen: dann iſt, ſo wie allenthalben, wo wir in unſerer Erklaͤrung der Phaͤnomene nicht mehr Wirkungen aus Wirkungen herleiten koͤnnen, ſon- dern bis zur wirkenden Kraft ſelbſt kommen, un- ſere Unterſuchung zu Ende. Und gerade dieſe letzte Art vortrefflicher Gedanken iſt es, die wir dem Genie zuſchreiben; gerade die Quelle ſolcher Ideen ſoll dieß Wort ausdruͤcken, die nicht durch Fleiß nach und nach ausgebildet worden, ſon- dern die aus dem Grunde der Seele ploͤtzlich ent- ſprungen ſind.
Wenn wir alſo hier etwas erklaͤren, und da- zu Urſachen aufſuchen wollen: ſo duͤrfen wir uns in der Seele ſelbſt nicht mehr darnach umſehen; ſondern wir muͤſſen die Umſtaͤnde des Menſchen
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Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
alsdann an, wenn dieſe Gedanken Folgen ande-
rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der
Reflexion und des Nachdenkens ſind. Aber wenn
ſie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent-
ſtehen ſcheinen, wenn ſich die veranlaſſenden hoͤ-
hern oder fruͤhern Ideen nicht finden, ſelbſt von
dem Menſchen, der jene hat, nicht bemerken laſ-
ſen: dann iſt, ſo wie allenthalben, wo wir in
unſerer Erklaͤrung der Phaͤnomene nicht mehr
Wirkungen aus Wirkungen herleiten koͤnnen, ſon-
dern bis zur wirkenden Kraft ſelbſt kommen, un-
ſere Unterſuchung zu Ende. Und gerade dieſe
letzte Art vortrefflicher Gedanken iſt es, die wir
dem Genie zuſchreiben; gerade die Quelle ſolcher
Ideen ſoll dieß Wort ausdruͤcken, die nicht durch
Fleiß nach und nach ausgebildet worden, ſon-
dern die aus dem Grunde der Seele ploͤtzlich ent-
ſprungen ſind.
Wenn wir alſo hier etwas erklaͤren, und da-
zu Urſachen aufſuchen wollen: ſo duͤrfen wir uns
in der Seele ſelbſt nicht mehr darnach umſehen;
ſondern wir muͤſſen die Umſtaͤnde des Menſchen
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/222>, abgerufen am 16.02.2025.
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