Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
nöthig hätten, um zu sehen, und ein ander Herz,
um zu fühlen, was uns gezeigt wird. Das
Schlimmste ist, daß derjenige selbst diese Organen
und dieses Herz nicht hat, der uns diese Dinge
zeigen will. Diese neue Welten sind bloß aus ei-
nigen Trümmern der gegenwärtigen erbauet, die
größtentheils übel zusammengefügt, und dadurch
weit unkenntlicher, weit unkräftiger geworden sind,
als sie in ihrer alten Anordnung waren. Einige
Kunstrichter, die, wie uns dünkt, mehr nach al-
ten Mustern und alten Regeln, als nach der Na-
tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoso-
phiren, haben der sogenannten Imagination in
der Dichtkunst, ich meyne der Imagination, wel-
che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We-
sen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho-
hen Rang unter den dichterischen Fähigkeiten, und
ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge-
legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem
Engländer Dufft *) wollen uns diese Herren durch-

*) In seinem Versuch über das Originalgenie.

Einige Gedanken
noͤthig haͤtten, um zu ſehen, und ein ander Herz,
um zu fuͤhlen, was uns gezeigt wird. Das
Schlimmſte iſt, daß derjenige ſelbſt dieſe Organen
und dieſes Herz nicht hat, der uns dieſe Dinge
zeigen will. Dieſe neue Welten ſind bloß aus ei-
nigen Truͤmmern der gegenwaͤrtigen erbauet, die
groͤßtentheils uͤbel zuſammengefuͤgt, und dadurch
weit unkenntlicher, weit unkraͤftiger geworden ſind,
als ſie in ihrer alten Anordnung waren. Einige
Kunſtrichter, die, wie uns duͤnkt, mehr nach al-
ten Muſtern und alten Regeln, als nach der Na-
tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoſo-
phiren, haben der ſogenannten Imagination in
der Dichtkunſt, ich meyne der Imagination, wel-
che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We-
ſen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho-
hen Rang unter den dichteriſchen Faͤhigkeiten, und
ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge-
legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem
Englaͤnder Dufft *) wollen uns dieſe Herren durch-

*) In ſeinem Verſuch uͤber das Originalgenie.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0282" n="276"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
no&#x0364;thig ha&#x0364;tten, um zu &#x017F;ehen, und ein ander Herz,<lb/>
um zu fu&#x0364;hlen, was uns gezeigt wird. Das<lb/>
Schlimm&#x017F;te i&#x017F;t, daß derjenige &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e Organen<lb/>
und die&#x017F;es Herz nicht hat, der uns die&#x017F;e Dinge<lb/>
zeigen will. Die&#x017F;e neue Welten &#x017F;ind bloß aus ei-<lb/>
nigen Tru&#x0364;mmern der gegenwa&#x0364;rtigen erbauet, die<lb/>
gro&#x0364;ßtentheils u&#x0364;bel zu&#x017F;ammengefu&#x0364;gt, und dadurch<lb/>
weit unkenntlicher, weit unkra&#x0364;ftiger geworden &#x017F;ind,<lb/>
als &#x017F;ie in ihrer alten Anordnung waren. Einige<lb/>
Kun&#x017F;trichter, die, wie uns du&#x0364;nkt, mehr nach al-<lb/>
ten Mu&#x017F;tern und alten Regeln, als nach der Na-<lb/>
tur und nach ihrer eigenen Empfindung philo&#x017F;o-<lb/>
phiren, haben der &#x017F;ogenannten <hi rendition="#fr">Imagination</hi> in<lb/>
der Dichtkun&#x017F;t, ich meyne der Imagination, wel-<lb/>
che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We-<lb/>
&#x017F;en und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho-<lb/>
hen Rang unter den dichteri&#x017F;chen Fa&#x0364;higkeiten, und<lb/>
ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge-<lb/>
legt. Vom <hi rendition="#fr">Longin</hi> oben an bis herunter zu dem<lb/>
Engla&#x0364;nder <hi rendition="#fr">Dufft</hi> <note place="foot" n="*)">In &#x017F;einem Ver&#x017F;uch u&#x0364;ber das Originalgenie.</note> wollen uns die&#x017F;e Herren durch-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0282] Einige Gedanken noͤthig haͤtten, um zu ſehen, und ein ander Herz, um zu fuͤhlen, was uns gezeigt wird. Das Schlimmſte iſt, daß derjenige ſelbſt dieſe Organen und dieſes Herz nicht hat, der uns dieſe Dinge zeigen will. Dieſe neue Welten ſind bloß aus ei- nigen Truͤmmern der gegenwaͤrtigen erbauet, die groͤßtentheils uͤbel zuſammengefuͤgt, und dadurch weit unkenntlicher, weit unkraͤftiger geworden ſind, als ſie in ihrer alten Anordnung waren. Einige Kunſtrichter, die, wie uns duͤnkt, mehr nach al- ten Muſtern und alten Regeln, als nach der Na- tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoſo- phiren, haben der ſogenannten Imagination in der Dichtkunſt, ich meyne der Imagination, wel- che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We- ſen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho- hen Rang unter den dichteriſchen Faͤhigkeiten, und ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge- legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem Englaͤnder Dufft *) wollen uns dieſe Herren durch- *) In ſeinem Verſuch uͤber das Originalgenie.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/282
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/282>, abgerufen am 24.11.2024.