Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.Einige Gedanken unsern neuern Stücken würden vertragen können.An ihre Stelle ist eine gewisse Metaphysik, eine Zergliederung der Empfindungen und Leidenschaf- ten getreten. Unsre Dichter lassen ihre Personen über ihr eigen Gefühl weit mehr räsonniren, als die Alten gethan haben. -- Unstreitig ist es für unsre Wißbegierde eines der empfindlichsten Ver- gnügen, wenn man uns unsre Erfahrungen gene- ralisiren lehrt, wenn man unserm Gefühle Worte verschafft, und der Idee so zu sagen aus ihrer Hülse heraushilft. Es wird also fast niemals fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht schon sehr bereichert und deren Geschmack nicht sehr fein ist, eine jede Sentenz, wenn sie auch noch so sehr am unrechten Orte steht, nicht eine Art von Be- wunderung erregen sollte. Ein Stück, das wohl versificirt und mit solchen Sentenzen angefüllt ist, wird, bey aller kunstrichterlichen Einsicht des fran- zösischen Parterre, doch gemeiniglich bey der ersten Aufführung von ihm beklatscht. Nur den Mann wird ein solches Stück beleidigen, bey dem auf der einen Seite das Vergnügen neuerworbener Kennt- Einige Gedanken unſern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen.An ihre Stelle iſt eine gewiſſe Metaphyſik, eine Zergliederung der Empfindungen und Leidenſchaf- ten getreten. Unſre Dichter laſſen ihre Perſonen uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤſonniren, als die Alten gethan haben. — Unſtreitig iſt es fuͤr unſre Wißbegierde eines der empfindlichſten Ver- gnuͤgen, wenn man uns unſre Erfahrungen gene- raliſiren lehrt, wenn man unſerm Gefuͤhle Worte verſchafft, und der Idee ſo zu ſagen aus ihrer Huͤlſe heraushilft. Es wird alſo faſt niemals fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht ſchon ſehr bereichert und deren Geſchmack nicht ſehr fein iſt, eine jede Sentenz, wenn ſie auch noch ſo ſehr am unrechten Orte ſteht, nicht eine Art von Be- wunderung erregen ſollte. Ein Stuͤck, das wohl verſificirt und mit ſolchen Sentenzen angefuͤllt iſt, wird, bey aller kunſtrichterlichen Einſicht des fran- zoͤſiſchen Parterre, doch gemeiniglich bey der erſten Auffuͤhrung von ihm beklatſcht. Nur den Mann wird ein ſolches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0306" n="300"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/> unſern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen.<lb/> An ihre Stelle iſt eine gewiſſe Metaphyſik, eine<lb/> Zergliederung der Empfindungen und Leidenſchaf-<lb/> ten getreten. Unſre Dichter laſſen ihre Perſonen<lb/> uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤſonniren, als<lb/> die Alten gethan haben. — Unſtreitig iſt es fuͤr<lb/> unſre Wißbegierde eines der empfindlichſten Ver-<lb/> gnuͤgen, wenn man uns unſre Erfahrungen gene-<lb/> raliſiren lehrt, wenn man unſerm Gefuͤhle Worte<lb/> verſchafft, und der Idee ſo zu ſagen aus ihrer<lb/> Huͤlſe heraushilft. Es wird alſo faſt niemals<lb/> fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht ſchon<lb/> ſehr bereichert und deren Geſchmack nicht ſehr fein<lb/> iſt, eine jede Sentenz, wenn ſie auch noch ſo ſehr<lb/> am unrechten Orte ſteht, nicht eine Art von Be-<lb/> wunderung erregen ſollte. Ein Stuͤck, das wohl<lb/> verſificirt und mit ſolchen Sentenzen angefuͤllt iſt,<lb/> wird, bey aller kunſtrichterlichen Einſicht des fran-<lb/> zoͤſiſchen Parterre, doch gemeiniglich bey der erſten<lb/> Auffuͤhrung von ihm beklatſcht. Nur <hi rendition="#g">den</hi> Mann<lb/> wird ein ſolches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der<lb/> einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [300/0306]
Einige Gedanken
unſern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen.
An ihre Stelle iſt eine gewiſſe Metaphyſik, eine
Zergliederung der Empfindungen und Leidenſchaf-
ten getreten. Unſre Dichter laſſen ihre Perſonen
uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤſonniren, als
die Alten gethan haben. — Unſtreitig iſt es fuͤr
unſre Wißbegierde eines der empfindlichſten Ver-
gnuͤgen, wenn man uns unſre Erfahrungen gene-
raliſiren lehrt, wenn man unſerm Gefuͤhle Worte
verſchafft, und der Idee ſo zu ſagen aus ihrer
Huͤlſe heraushilft. Es wird alſo faſt niemals
fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht ſchon
ſehr bereichert und deren Geſchmack nicht ſehr fein
iſt, eine jede Sentenz, wenn ſie auch noch ſo ſehr
am unrechten Orte ſteht, nicht eine Art von Be-
wunderung erregen ſollte. Ein Stuͤck, das wohl
verſificirt und mit ſolchen Sentenzen angefuͤllt iſt,
wird, bey aller kunſtrichterlichen Einſicht des fran-
zoͤſiſchen Parterre, doch gemeiniglich bey der erſten
Auffuͤhrung von ihm beklatſcht. Nur den Mann
wird ein ſolches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der
einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt-
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