Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige Gedanken

Erstlich muß man unter dem vollkommnen
Manne nicht den Menschen verstehen, der alle Ge-
schicklichkeiten und Wissenschaften besizt, so wie
Grandison zuweilen beschrieben wird. Eine solche
Schilderung kann frostig werden. Einmal, weil
sie falsch und unnatürlich ist: denn einen ganz
tugendhasten Menschen kann es wohl geben, we-
nigstens ist das Ideal der moralischen Vollkom-
menheit kein Hirngespinst, es ist vielleicht die rein-
ste, die unverfälschteste Natur; aber einen Men-
schen, der bey der größten Gelehrsamkeit, dem
feinsten Witze, auch der artigste Hofmann, der
tapferste Soldat, ein guter Fechter, Reiter und
Tänzer sey, den kann es nicht geben, weil diese
Geschichkeiten Uebungen erfordern, wovon die
eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei-
ner solchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu
viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich-
ter nicht will.

Zweytens muß man unter dem vollkomme-
nen Charakter nicht nothwendig einen Catonschen
Charakter verstehen; wenn man den Cato so an-

Einige Gedanken

Erſtlich muß man unter dem vollkommnen
Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge-
ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie
Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche
Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil
ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz
tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we-
nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom-
menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein-
ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men-
ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem
feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der
tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und
Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe
Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die
eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei-
ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu
viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich-
ter nicht will.

Zweytens muß man unter dem vollkomme-
nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen
Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0376" n="370"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi> </fw><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Er&#x017F;tlich</hi> muß man unter dem vollkommnen<lb/>
Manne nicht den Men&#x017F;chen ver&#x017F;tehen, der alle Ge-<lb/>
&#x017F;chicklichkeiten und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften be&#x017F;izt, &#x017F;o wie<lb/>
Grandi&#x017F;on zuweilen be&#x017F;chrieben wird. Eine &#x017F;olche<lb/>
Schilderung kann fro&#x017F;tig werden. <hi rendition="#fr">Einmal,</hi> weil<lb/>
&#x017F;ie fal&#x017F;ch und unnatu&#x0364;rlich i&#x017F;t: denn einen ganz<lb/>
tugendha&#x017F;ten Men&#x017F;chen kann es wohl geben, we-<lb/>
nig&#x017F;tens i&#x017F;t das Ideal der morali&#x017F;chen Vollkom-<lb/>
menheit kein Hirnge&#x017F;pin&#x017F;t, es i&#x017F;t vielleicht die rein-<lb/>
&#x017F;te, die unverfa&#x0364;l&#x017F;chte&#x017F;te Natur; aber einen Men-<lb/>
&#x017F;chen, der bey der gro&#x0364;ßten Gelehr&#x017F;amkeit, dem<lb/>
fein&#x017F;ten Witze, auch der artig&#x017F;te Hofmann, der<lb/>
tapfer&#x017F;te Soldat, ein guter Fechter, Reiter und<lb/>
Ta&#x0364;nzer &#x017F;ey, den kann es nicht geben, weil die&#x017F;e<lb/>
Ge&#x017F;chichkeiten Uebungen erfordern, wovon die<lb/>
eine die andre aufhebt. <hi rendition="#fr">Zweytens,</hi> weil in ei-<lb/>
ner &#x017F;olchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu<lb/>
viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich-<lb/>
ter nicht will.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Zweytens</hi> muß man unter dem vollkomme-<lb/>
nen Charakter nicht nothwendig einen Caton&#x017F;chen<lb/>
Charakter ver&#x017F;tehen; wenn man den Cato &#x017F;o an-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0376] Einige Gedanken Erſtlich muß man unter dem vollkommnen Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge- ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we- nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom- menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein- ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men- ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei- ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich- ter nicht will. Zweytens muß man unter dem vollkomme- nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/376
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/376>, abgerufen am 22.11.2024.