Erstlich muß man unter dem vollkommnen Manne nicht den Menschen verstehen, der alle Ge- schicklichkeiten und Wissenschaften besizt, so wie Grandison zuweilen beschrieben wird. Eine solche Schilderung kann frostig werden. Einmal, weil sie falsch und unnatürlich ist: denn einen ganz tugendhasten Menschen kann es wohl geben, we- nigstens ist das Ideal der moralischen Vollkom- menheit kein Hirngespinst, es ist vielleicht die rein- ste, die unverfälschteste Natur; aber einen Men- schen, der bey der größten Gelehrsamkeit, dem feinsten Witze, auch der artigste Hofmann, der tapferste Soldat, ein guter Fechter, Reiter und Tänzer sey, den kann es nicht geben, weil diese Geschichkeiten Uebungen erfordern, wovon die eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei- ner solchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich- ter nicht will.
Zweytens muß man unter dem vollkomme- nen Charakter nicht nothwendig einen Catonschen Charakter verstehen; wenn man den Cato so an-
Einige Gedanken
Erſtlich muß man unter dem vollkommnen Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge- ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we- nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom- menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein- ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men- ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei- ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich- ter nicht will.
Zweytens muß man unter dem vollkomme- nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an-
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Einige Gedanken
Erſtlich muß man unter dem vollkommnen
Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge-
ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie
Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche
Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil
ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz
tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we-
nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom-
menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein-
ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men-
ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem
feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der
tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und
Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe
Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die
eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei-
ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu
viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich-
ter nicht will.
Zweytens muß man unter dem vollkomme-
nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen
Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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