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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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über das Interessirende.
nimmt, wie Addison und die meisten ihn schildern.
Seine Tugend ist zu einseitig; Muth und Ent-
schlossenheit schimmert unter den übrigen zu sehr
hervor; sein Wohlwollen ist zu allgemein und zu
kalt: überdieß thut er alles, was er thut, mit
einem gewissen Prunk. Der Charakter des So-
krates ist nicht weniger vollkommen: aber seine
Schilderung würde weit interessanter seyn. Er
war auch standhaft und beherzt, wenn es irgend
einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder
den Schwierigkeiten; er überwand sie, indem er
sich unter ihnen zu beugen schien. Seine Men-
schenliebe ist eben so rein, und von eben so großem
Umfange: aber sie kann sich bey einzelnen Perso-
nen bis zur Zärtlichkeit erwärmen; er wird wech-
selsweise der Vater, der Bruder, der Freund, der
Gespiele der Alten und der Kinder, mit denen er
spricht. Endlich ist er in seinem Thun und Reden
einfältig und gemein; in dem Innersten seines
Geistes ist der große und der außerordentliche
Mensch, auf der Oberfläche sieht man nur den ge-
wöhnlichen guten Mann.

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uͤber das Intereſſirende.
nimmt, wie Addiſon und die meiſten ihn ſchildern.
Seine Tugend iſt zu einſeitig; Muth und Ent-
ſchloſſenheit ſchimmert unter den uͤbrigen zu ſehr
hervor; ſein Wohlwollen iſt zu allgemein und zu
kalt: uͤberdieß thut er alles, was er thut, mit
einem gewiſſen Prunk. Der Charakter des So-
krates iſt nicht weniger vollkommen: aber ſeine
Schilderung wuͤrde weit intereſſanter ſeyn. Er
war auch ſtandhaft und beherzt, wenn es irgend
einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder
den Schwierigkeiten; er uͤberwand ſie, indem er
ſich unter ihnen zu beugen ſchien. Seine Men-
ſchenliebe iſt eben ſo rein, und von eben ſo großem
Umfange: aber ſie kann ſich bey einzelnen Perſo-
nen bis zur Zaͤrtlichkeit erwaͤrmen; er wird wech-
ſelsweiſe der Vater, der Bruder, der Freund, der
Geſpiele der Alten und der Kinder, mit denen er
ſpricht. Endlich iſt er in ſeinem Thun und Reden
einfaͤltig und gemein; in dem Innerſten ſeines
Geiſtes iſt der große und der außerordentliche
Menſch, auf der Oberflaͤche ſieht man nur den ge-
woͤhnlichen guten Mann.

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[371/0377] uͤber das Intereſſirende. nimmt, wie Addiſon und die meiſten ihn ſchildern. Seine Tugend iſt zu einſeitig; Muth und Ent- ſchloſſenheit ſchimmert unter den uͤbrigen zu ſehr hervor; ſein Wohlwollen iſt zu allgemein und zu kalt: uͤberdieß thut er alles, was er thut, mit einem gewiſſen Prunk. Der Charakter des So- krates iſt nicht weniger vollkommen: aber ſeine Schilderung wuͤrde weit intereſſanter ſeyn. Er war auch ſtandhaft und beherzt, wenn es irgend einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder den Schwierigkeiten; er uͤberwand ſie, indem er ſich unter ihnen zu beugen ſchien. Seine Men- ſchenliebe iſt eben ſo rein, und von eben ſo großem Umfange: aber ſie kann ſich bey einzelnen Perſo- nen bis zur Zaͤrtlichkeit erwaͤrmen; er wird wech- ſelsweiſe der Vater, der Bruder, der Freund, der Geſpiele der Alten und der Kinder, mit denen er ſpricht. Endlich iſt er in ſeinem Thun und Reden einfaͤltig und gemein; in dem Innerſten ſeines Geiſtes iſt der große und der außerordentliche Menſch, auf der Oberflaͤche ſieht man nur den ge- woͤhnlichen guten Mann. A a 2

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/377>, abgerufen am 17.05.2024.