Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige Gedanken

Dieß also abgesondert: sollte wirklich der
unvollkommne Mensch in seinem Bildnisse uns ge-
fallen und an sich ziehen; und der vollkommenste
beste Mensch sollte uns langweilig seyn? Einzelne
Stralen der Tugend sollten einen Charakter er-
wärmen, und das volle Feuer derselben sollte ihn
kalt machen?

Wir fürchten uns vor einer Entscheidung [ - 1 Zeichen fehlt]
aber wir wünschten nur einige Data dazu zu
sammlen, damit andre besser als wir entscheiden
könnten.

Von der einen Seite scheint es wahr, was
Diderot sagt, daß der Lorber des Apollo durch
Blut befruchtet werden müsse; daß fast alle be-
trächtliche Unglücksfälle durch Verbrechen gesche-
hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter
Menschen keine tragische Begebenheiten mehr mög-
lich wären. Es scheint wahr, daß das Unglück
nicht eher recht rührend wird, als wenn es sich
ein sonst guter und von uns geliebter Mann durch
irgend einen Fehler selbst zugezogen hat; es scheint
endlich wahr, daß eine gewisse Ausschweifung und

Einige Gedanken

Dieß alſo abgeſondert: ſollte wirklich der
unvollkommne Menſch in ſeinem Bildniſſe uns ge-
fallen und an ſich ziehen; und der vollkommenſte
beſte Menſch ſollte uns langweilig ſeyn? Einzelne
Stralen der Tugend ſollten einen Charakter er-
waͤrmen, und das volle Feuer derſelben ſollte ihn
kalt machen?

Wir fuͤrchten uns vor einer Entſcheidung [ – 1 Zeichen fehlt]
aber wir wuͤnſchten nur einige Data dazu zu
ſammlen, damit andre beſſer als wir entſcheiden
koͤnnten.

Von der einen Seite ſcheint es wahr, was
Diderot ſagt, daß der Lorber des Apollo durch
Blut befruchtet werden muͤſſe; daß faſt alle be-
traͤchtliche Ungluͤcksfaͤlle durch Verbrechen geſche-
hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter
Menſchen keine tragiſche Begebenheiten mehr moͤg-
lich waͤren. Es ſcheint wahr, daß das Ungluͤck
nicht eher recht ruͤhrend wird, als wenn es ſich
ein ſonſt guter und von uns geliebter Mann durch
irgend einen Fehler ſelbſt zugezogen hat; es ſcheint
endlich wahr, daß eine gewiſſe Ausſchweifung und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0378" n="372"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi> </fw><lb/>
        <p>Dieß al&#x017F;o abge&#x017F;ondert: &#x017F;ollte wirklich der<lb/>
unvollkommne Men&#x017F;ch in &#x017F;einem Bildni&#x017F;&#x017F;e uns ge-<lb/>
fallen und an &#x017F;ich ziehen; und der vollkommen&#x017F;te<lb/>
be&#x017F;te Men&#x017F;ch &#x017F;ollte uns langweilig &#x017F;eyn? Einzelne<lb/>
Stralen der Tugend &#x017F;ollten einen Charakter er-<lb/>
wa&#x0364;rmen, und das volle Feuer der&#x017F;elben &#x017F;ollte ihn<lb/>
kalt machen?</p><lb/>
        <p>Wir fu&#x0364;rchten uns vor einer Ent&#x017F;cheidung <gap unit="chars" quantity="1"/><lb/>
aber wir wu&#x0364;n&#x017F;chten nur einige Data dazu zu<lb/>
&#x017F;ammlen, damit andre be&#x017F;&#x017F;er als wir ent&#x017F;cheiden<lb/>
ko&#x0364;nnten.</p><lb/>
        <p>Von der einen Seite &#x017F;cheint es wahr, was<lb/><hi rendition="#fr">Diderot</hi> &#x017F;agt, daß der Lorber des Apollo durch<lb/>
Blut befruchtet werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e; daß fa&#x017F;t alle be-<lb/>
tra&#x0364;chtliche Unglu&#x0364;cksfa&#x0364;lle durch Verbrechen ge&#x017F;che-<lb/>
hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter<lb/>
Men&#x017F;chen keine tragi&#x017F;che Begebenheiten mehr mo&#x0364;g-<lb/>
lich wa&#x0364;ren. Es &#x017F;cheint wahr, daß das Unglu&#x0364;ck<lb/>
nicht eher recht ru&#x0364;hrend wird, als wenn es &#x017F;ich<lb/>
ein &#x017F;on&#x017F;t guter und von uns geliebter Mann durch<lb/>
irgend einen Fehler &#x017F;elb&#x017F;t zugezogen hat; es &#x017F;cheint<lb/>
endlich wahr, daß eine gewi&#x017F;&#x017F;e Aus&#x017F;chweifung und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[372/0378] Einige Gedanken Dieß alſo abgeſondert: ſollte wirklich der unvollkommne Menſch in ſeinem Bildniſſe uns ge- fallen und an ſich ziehen; und der vollkommenſte beſte Menſch ſollte uns langweilig ſeyn? Einzelne Stralen der Tugend ſollten einen Charakter er- waͤrmen, und das volle Feuer derſelben ſollte ihn kalt machen? Wir fuͤrchten uns vor einer Entſcheidung _ aber wir wuͤnſchten nur einige Data dazu zu ſammlen, damit andre beſſer als wir entſcheiden koͤnnten. Von der einen Seite ſcheint es wahr, was Diderot ſagt, daß der Lorber des Apollo durch Blut befruchtet werden muͤſſe; daß faſt alle be- traͤchtliche Ungluͤcksfaͤlle durch Verbrechen geſche- hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter Menſchen keine tragiſche Begebenheiten mehr moͤg- lich waͤren. Es ſcheint wahr, daß das Ungluͤck nicht eher recht ruͤhrend wird, als wenn es ſich ein ſonſt guter und von uns geliebter Mann durch irgend einen Fehler ſelbſt zugezogen hat; es ſcheint endlich wahr, daß eine gewiſſe Ausſchweifung und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/378
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/378>, abgerufen am 17.05.2024.