Schwärmerey jeder Leidenschaft, die ohne mora- lische Unordnung nicht möglich ist, der beste poe- tische Stoff sey.
Und doch sehen wir auf der andern Seite, daß wir den Mann, an dessen Begebenheiten wir Theil nehmen sollen, lieben oder achten müssen, und daß sich diese Liebe oder Achtung auf irgend eine in seinem Charakter hervorleuchtende Tugend gründet; wir sehen, daß verwickelte Unglücks- fälle bloß dadurch interessiren, weil wir eines wei- sen Mannes Entschlüsse dabey sehen wollen; wir sehen, daß nicht die Begebenheit interessirt, son- dern der Charakter, und zwar gewisse Vollkom- menheiten des Charakters, die durch die Begeben- heit so zu sagen aufgefodert und in volle Wirk- samkeit gesezt worden: auch bey der Bosheit ist es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel- che uns die Unterhaltung gewähret.
Des Dichters Geschäfte ist freylich, die Na- tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu schildern; und wenn die Natur mehr mittelmäßig gute als vollkommene Menschen hervorbringt; so würde
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uͤber das Intereſſirende.
Schwaͤrmerey jeder Leidenſchaft, die ohne mora- liſche Unordnung nicht moͤglich iſt, der beſte poe- tiſche Stoff ſey.
Und doch ſehen wir auf der andern Seite, daß wir den Mann, an deſſen Begebenheiten wir Theil nehmen ſollen, lieben oder achten muͤſſen, und daß ſich dieſe Liebe oder Achtung auf irgend eine in ſeinem Charakter hervorleuchtende Tugend gruͤndet; wir ſehen, daß verwickelte Ungluͤcks- faͤlle bloß dadurch intereſſiren, weil wir eines wei- ſen Mannes Entſchluͤſſe dabey ſehen wollen; wir ſehen, daß nicht die Begebenheit intereſſirt, ſon- dern der Charakter, und zwar gewiſſe Vollkom- menheiten des Charakters, die durch die Begeben- heit ſo zu ſagen aufgefodert und in volle Wirk- ſamkeit geſezt worden: auch bey der Bosheit iſt es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel- che uns die Unterhaltung gewaͤhret.
Des Dichters Geſchaͤfte iſt freylich, die Na- tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu ſchildern; und wenn die Natur mehr mittelmaͤßig gute als vollkommene Menſchen hervorbringt; ſo wuͤrde
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uͤber das Intereſſirende.
Schwaͤrmerey jeder Leidenſchaft, die ohne mora-
liſche Unordnung nicht moͤglich iſt, der beſte poe-
tiſche Stoff ſey.
Und doch ſehen wir auf der andern Seite,
daß wir den Mann, an deſſen Begebenheiten wir
Theil nehmen ſollen, lieben oder achten muͤſſen,
und daß ſich dieſe Liebe oder Achtung auf irgend
eine in ſeinem Charakter hervorleuchtende Tugend
gruͤndet; wir ſehen, daß verwickelte Ungluͤcks-
faͤlle bloß dadurch intereſſiren, weil wir eines wei-
ſen Mannes Entſchluͤſſe dabey ſehen wollen; wir
ſehen, daß nicht die Begebenheit intereſſirt, ſon-
dern der Charakter, und zwar gewiſſe Vollkom-
menheiten des Charakters, die durch die Begeben-
heit ſo zu ſagen aufgefodert und in volle Wirk-
ſamkeit geſezt worden: auch bey der Bosheit iſt
es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel-
che uns die Unterhaltung gewaͤhret.
Des Dichters Geſchaͤfte iſt freylich, die Na-
tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu ſchildern;
und wenn die Natur mehr mittelmaͤßig gute als
vollkommene Menſchen hervorbringt; ſo wuͤrde
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/379>, abgerufen am 21.11.2024.
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