Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
nehmen, am klärsten dargestellt werden können,
und am kräftigsten wirken?

So sind z. B. körperliche und geistige Ver-
gnügen und Schmerzen mit einander vermischt.
Die Aussicht auf Wohlstand und Ehre mischt sich
in die Unternehmungen unsrer reinsten Menschen-
liebe. Das zärtlichste Bedauren geliebter Freun-
de hat zugleich den Schmerz über entstandene
äußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile
zum Grunde. Aber auch keine Begierde ist so kör-
perlich, daß nicht moralische Freuden und
Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge-
fallen mit uns selbst, Scham oder Stolz sich dar-
ein mischen. Wenn der Dichter also angewiesen
wird, in jeder Leidenschaft die moralische Seite
aufzusuchen; uns in den Schicksalen seiner Per-
sonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die
dieselben auf ihr Herz, ihre Gesinnungen, ihre
Denkungsart thun: so ist die Methode der Schil-
derung so weit bestimmt, als es durch Regeln ge-
schehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit
kann entweder auf viele Personen durch Sympa-

Einige Gedanken
nehmen, am klaͤrſten dargeſtellt werden koͤnnen,
und am kraͤftigſten wirken?

So ſind z. B. koͤrperliche und geiſtige Ver-
gnuͤgen und Schmerzen mit einander vermiſcht.
Die Ausſicht auf Wohlſtand und Ehre miſcht ſich
in die Unternehmungen unſrer reinſten Menſchen-
liebe. Das zaͤrtlichſte Bedauren geliebter Freun-
de hat zugleich den Schmerz uͤber entſtandene
aͤußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile
zum Grunde. Aber auch keine Begierde iſt ſo koͤr-
perlich, daß nicht moraliſche Freuden und
Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge-
fallen mit uns ſelbſt, Scham oder Stolz ſich dar-
ein miſchen. Wenn der Dichter alſo angewieſen
wird, in jeder Leidenſchaft die moraliſche Seite
aufzuſuchen; uns in den Schickſalen ſeiner Per-
ſonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die
dieſelben auf ihr Herz, ihre Geſinnungen, ihre
Denkungsart thun: ſo iſt die Methode der Schil-
derung ſo weit beſtimmt, als es durch Regeln ge-
ſchehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit
kann entweder auf viele Perſonen durch Sympa-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0388" n="382"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
nehmen, am kla&#x0364;r&#x017F;ten darge&#x017F;tellt werden ko&#x0364;nnen,<lb/>
und am kra&#x0364;ftig&#x017F;ten wirken?</p><lb/>
          <p>So &#x017F;ind z. B. ko&#x0364;rperliche und gei&#x017F;tige Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen und Schmerzen mit einander vermi&#x017F;cht.<lb/>
Die Aus&#x017F;icht auf Wohl&#x017F;tand und Ehre mi&#x017F;cht &#x017F;ich<lb/>
in die Unternehmungen un&#x017F;rer rein&#x017F;ten Men&#x017F;chen-<lb/>
liebe. Das za&#x0364;rtlich&#x017F;te Bedauren geliebter Freun-<lb/>
de hat zugleich den Schmerz u&#x0364;ber ent&#x017F;tandene<lb/>
a&#x0364;ußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile<lb/>
zum Grunde. Aber auch keine Begierde i&#x017F;t &#x017F;o ko&#x0364;r-<lb/>
perlich, daß nicht morali&#x017F;che Freuden und<lb/>
Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge-<lb/>
fallen mit uns &#x017F;elb&#x017F;t, Scham oder Stolz &#x017F;ich dar-<lb/>
ein mi&#x017F;chen. Wenn der Dichter al&#x017F;o angewie&#x017F;en<lb/>
wird, in jeder Leiden&#x017F;chaft die morali&#x017F;che Seite<lb/>
aufzu&#x017F;uchen; uns in den Schick&#x017F;alen &#x017F;einer Per-<lb/>
&#x017F;onen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die<lb/>
die&#x017F;elben auf ihr Herz, ihre Ge&#x017F;innungen, ihre<lb/>
Denkungsart thun: &#x017F;o i&#x017F;t die Methode der Schil-<lb/>
derung &#x017F;o weit be&#x017F;timmt, als es durch Regeln ge-<lb/>
&#x017F;chehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit<lb/>
kann entweder auf viele Per&#x017F;onen durch Sympa-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0388] Einige Gedanken nehmen, am klaͤrſten dargeſtellt werden koͤnnen, und am kraͤftigſten wirken? So ſind z. B. koͤrperliche und geiſtige Ver- gnuͤgen und Schmerzen mit einander vermiſcht. Die Ausſicht auf Wohlſtand und Ehre miſcht ſich in die Unternehmungen unſrer reinſten Menſchen- liebe. Das zaͤrtlichſte Bedauren geliebter Freun- de hat zugleich den Schmerz uͤber entſtandene aͤußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile zum Grunde. Aber auch keine Begierde iſt ſo koͤr- perlich, daß nicht moraliſche Freuden und Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge- fallen mit uns ſelbſt, Scham oder Stolz ſich dar- ein miſchen. Wenn der Dichter alſo angewieſen wird, in jeder Leidenſchaft die moraliſche Seite aufzuſuchen; uns in den Schickſalen ſeiner Per- ſonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die dieſelben auf ihr Herz, ihre Geſinnungen, ihre Denkungsart thun: ſo iſt die Methode der Schil- derung ſo weit beſtimmt, als es durch Regeln ge- ſchehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit kann entweder auf viele Perſonen durch Sympa-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/388
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/388>, abgerufen am 17.05.2024.