Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

über das Interessirende.
leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub-
jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die
späteste Zeit arbeitete der Witz und der Scharf-
sinn ihrer besten Köpfe, die Geschichten zu ver-
schönern, die die wilde Einbildungskraft ihrer
Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter
haben die Romane und die Schauspiele der mitt-
lern Zeiten auf gleiche Weise benutzt.

Ist es, daß die Einbildungskraft ganz zü-
gellos, an keine Regeln gebunden seyn will,
wenn sie eigentlich erfindet, und daß, um sich
an Richtigkeit und Ordnung zu binden, sie schon
einen Plan, wenn auch nur einen Chaotischen,
vor sich haben muß?

Es giebt eine Neubegierde, unbekannte selt-
same Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre,
bekannte Dinge erklärt, mit unbekannten oder
großen in Verbindung gesezt zu sehen, oder ih-
ren Ursprung zu erfahren. Dieser Art des In-
teresses haben sich die alten Dichter, und vor-
züglich Virgil bedient, indem sie fast alle Perso-
nen, die sie aufführen, aus der Fabel und Tradi-

E e 2

uͤber das Intereſſirende.
leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub-
jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die
ſpaͤteſte Zeit arbeitete der Witz und der Scharf-
ſinn ihrer beſten Koͤpfe, die Geſchichten zu ver-
ſchoͤnern, die die wilde Einbildungskraft ihrer
Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter
haben die Romane und die Schauſpiele der mitt-
lern Zeiten auf gleiche Weiſe benutzt.

Iſt es, daß die Einbildungskraft ganz zuͤ-
gellos, an keine Regeln gebunden ſeyn will,
wenn ſie eigentlich erfindet, und daß, um ſich
an Richtigkeit und Ordnung zu binden, ſie ſchon
einen Plan, wenn auch nur einen Chaotiſchen,
vor ſich haben muß?

Es giebt eine Neubegierde, unbekannte ſelt-
ſame Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre,
bekannte Dinge erklaͤrt, mit unbekannten oder
großen in Verbindung geſezt zu ſehen, oder ih-
ren Urſprung zu erfahren. Dieſer Art des In-
tereſſes haben ſich die alten Dichter, und vor-
zuͤglich Virgil bedient, indem ſie faſt alle Perſo-
nen, die ſie auffuͤhren, aus der Fabel und Tradi-

E e 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0441" n="435"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">u&#x0364;ber das Intere&#x017F;&#x017F;irende.</hi></fw><lb/>
leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub-<lb/>
jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;te&#x017F;te Zeit arbeitete der Witz und der Scharf-<lb/>
&#x017F;inn ihrer be&#x017F;ten Ko&#x0364;pfe, die Ge&#x017F;chichten zu ver-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nern, die die wilde Einbildungskraft ihrer<lb/>
Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter<lb/>
haben die Romane und die Schau&#x017F;piele der mitt-<lb/>
lern Zeiten auf gleiche Wei&#x017F;e benutzt.</p><lb/>
          <p>I&#x017F;t es, daß die Einbildungskraft ganz zu&#x0364;-<lb/>
gellos, an keine Regeln gebunden &#x017F;eyn will,<lb/>
wenn &#x017F;ie eigentlich erfindet, und daß, um &#x017F;ich<lb/>
an Richtigkeit und Ordnung zu binden, &#x017F;ie &#x017F;chon<lb/>
einen Plan, wenn auch nur einen Chaoti&#x017F;chen,<lb/>
vor &#x017F;ich haben muß?</p><lb/>
          <p>Es giebt eine Neubegierde, unbekannte &#x017F;elt-<lb/>
&#x017F;ame Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre,<lb/>
bekannte Dinge erkla&#x0364;rt, mit unbekannten oder<lb/>
großen in Verbindung ge&#x017F;ezt zu &#x017F;ehen, oder ih-<lb/>
ren Ur&#x017F;prung zu erfahren. Die&#x017F;er Art des In-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;es haben &#x017F;ich die alten Dichter, und vor-<lb/>
zu&#x0364;glich Virgil bedient, indem &#x017F;ie fa&#x017F;t alle Per&#x017F;o-<lb/>
nen, die &#x017F;ie auffu&#x0364;hren, aus der Fabel und Tradi-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[435/0441] uͤber das Intereſſirende. leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub- jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die ſpaͤteſte Zeit arbeitete der Witz und der Scharf- ſinn ihrer beſten Koͤpfe, die Geſchichten zu ver- ſchoͤnern, die die wilde Einbildungskraft ihrer Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter haben die Romane und die Schauſpiele der mitt- lern Zeiten auf gleiche Weiſe benutzt. Iſt es, daß die Einbildungskraft ganz zuͤ- gellos, an keine Regeln gebunden ſeyn will, wenn ſie eigentlich erfindet, und daß, um ſich an Richtigkeit und Ordnung zu binden, ſie ſchon einen Plan, wenn auch nur einen Chaotiſchen, vor ſich haben muß? Es giebt eine Neubegierde, unbekannte ſelt- ſame Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre, bekannte Dinge erklaͤrt, mit unbekannten oder großen in Verbindung geſezt zu ſehen, oder ih- ren Urſprung zu erfahren. Dieſer Art des In- tereſſes haben ſich die alten Dichter, und vor- zuͤglich Virgil bedient, indem ſie faſt alle Perſo- nen, die ſie auffuͤhren, aus der Fabel und Tradi- E e 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/441
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/441>, abgerufen am 19.05.2024.