Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber die Prüfung
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar-
ten von Leidenschaften in der Seele rege macht,
so ist die Einbildungskraft gut. Die Entstehung
dieser Leidenschaften hängt immer von einer ge-
wissen idealen Gegenwart der Gegenstände ab,
und diese wird von der Einbildungskraft gewirkt.
Eine rührende Begebenheit also mit Kaltsinn an-
hören; bey der Erzählung einer vortreflichen That
gleichgültig seyn; an dem Schicksale der Tugend-
haften keinen Antheil nehmen; sich für keine Per-
son oder für keine Art von menschlichen Vollkom-
menheiten interessiren, zeigt nicht bloß ein unem-
pfindliches Herz, sondern auch einen schwachen
Kopf an. Die Seele muß ganz unfähig seyn,
sich diese Art von Bildern nur vorzustellen,
wenn sie von ihnen gar keine Wirkung em-
pfindet.

Weiter! Wenn man bey gewissen Kindern
zuweilen eine plötzliche Freude, eine Frucht, eine
Niedergeschlagenheit sieht, die sich aus ihren ge-
genwärtigen Empfindungen nicht erklären läßt;
so kann man daraus auf eine geheime Geschäftig-

Ueber die Pruͤfung
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar-
ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht,
ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung
dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge-
wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab,
und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt.
Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an-
hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That
gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend-
haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per-
ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom-
menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem-
pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen
Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn,
ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen,
wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em-
pfindet.

Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern
zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine
Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge-
genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt;
ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0046" n="40"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber die Pru&#x0364;fung</hi></fw><lb/>
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar-<lb/>
ten von Leiden&#x017F;chaften in der Seele rege macht,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t die Einbildungskraft gut. Die Ent&#x017F;tehung<lb/>
die&#x017F;er Leiden&#x017F;chaften ha&#x0364;ngt immer von einer ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en idealen Gegenwart der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde ab,<lb/>
und die&#x017F;e wird von der Einbildungskraft gewirkt.<lb/>
Eine ru&#x0364;hrende Begebenheit al&#x017F;o mit Kalt&#x017F;inn an-<lb/>
ho&#x0364;ren; bey der Erza&#x0364;hlung einer vortreflichen That<lb/>
gleichgu&#x0364;ltig &#x017F;eyn; an dem Schick&#x017F;ale der Tugend-<lb/>
haften keinen Antheil nehmen; &#x017F;ich fu&#x0364;r keine Per-<lb/>
&#x017F;on oder fu&#x0364;r keine Art von men&#x017F;chlichen Vollkom-<lb/>
menheiten intere&#x017F;&#x017F;iren, zeigt nicht bloß ein unem-<lb/>
pfindliches Herz, &#x017F;ondern auch einen &#x017F;chwachen<lb/>
Kopf an. Die Seele muß ganz unfa&#x0364;hig &#x017F;eyn,<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;e Art von Bildern nur vorzu&#x017F;tellen,<lb/>
wenn &#x017F;ie von ihnen gar keine Wirkung em-<lb/>
pfindet.</p><lb/>
        <p>Weiter! Wenn man bey gewi&#x017F;&#x017F;en Kindern<lb/>
zuweilen eine plo&#x0364;tzliche Freude, eine Frucht, eine<lb/>
Niederge&#x017F;chlagenheit &#x017F;ieht, die &#x017F;ich aus ihren ge-<lb/>
genwa&#x0364;rtigen Empfindungen nicht erkla&#x0364;ren la&#x0364;ßt;<lb/>
&#x017F;o kann man daraus auf eine geheime Ge&#x017F;cha&#x0364;ftig-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0046] Ueber die Pruͤfung leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar- ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht, ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge- wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab, und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an- hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend- haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per- ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom- menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem- pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn, ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen, wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em- pfindet. Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge- genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt; ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/46
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/46>, abgerufen am 29.03.2024.