Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


ist. Daher scheinen uns helle Körper unter gleichen Umständen näher, als dunkle. Ein Zimmer scheint kleiner, wenn die Wände frisch geweißet, und die Berge scheinen näher, wenn sie mit Schnee bedeckt sind. Aus eben dem Grunde scheinen bey neblichtem Wetter die Gegenstände entfernter, als bey hellem u. s. w. Hierauf gründet sich auch die Luftperspectiv der Maler.

Das fünfte Hülfsmittel besteht in dem verschiedenen Ansehen der kleinen Theile der Gegenstände. Erscheinen diese deutlich, so halten wir die Sache für nahe; sehen wir sie aber undeutlich oder gar nicht, so schätzen wir die Entfernung größer. Denn die kleinen Theile der Gegenstände werden unter desto kleinern Winkeln gesehen, je weiter sie von uns ab liegen, und bey großen Entfernungen werden diese Winkel so klein, daß sie gar nicht mehr, oder doch nur sehr undeutlich, wahrgenommen werden.

Das sechste und letzte endlich liegt darinn, daß man nicht eine Sache allein, sondern auch alle umliegende zugleich mit betrachtet. Sehen wir z. B. einen entlegnen Kirchthurm, so erblicken wir gewöhnlich mehrere Felder, Gebäude rc. zwischen demselben und uns, deren Entfernungen wir schätzen. Dies veranlasset natürlich das Urtheil, daß des Thurms Entfernung noch größer, als die geschätzte Entfernung der Felder rc. sey. Porterfield vergleicht diese Art, Entfernungen zu bemerken, sehr richtig mit der Vorstellung, die wir uns von der seit einer gewissen Epoche unsers Lebens verflossenen Zeit machen. Wir urtheilen nemlich, daß seit dieser Epoche eine lange Zeit verflossen sey, wenn wir uns seit derselben vieler Gedanken und Handlungen, auch nur dunkel, erinnern; und wie diese dunkle Erinnerung eigentlich mit der Vorstellung einer langen Zeit ganz einerley ist, so ist die dunkle Vorstellung vieler zwischenliegenden Dinge mit dem Begrif einer großen Entfernung einerley.

Je mehr der Zwischenraum von dem Auge bis an den Gegenstand in kleine sich von einander unterscheidende Theile abgetheilt ist, desto größer wird er uns vorkommen. Darum scheinen Entfernungen auf ebnen Flächen größer,


iſt. Daher ſcheinen uns helle Koͤrper unter gleichen Umſtaͤnden naͤher, als dunkle. Ein Zimmer ſcheint kleiner, wenn die Waͤnde friſch geweißet, und die Berge ſcheinen naͤher, wenn ſie mit Schnee bedeckt ſind. Aus eben dem Grunde ſcheinen bey neblichtem Wetter die Gegenſtaͤnde entfernter, als bey hellem u. ſ. w. Hierauf gruͤndet ſich auch die Luftperſpectiv der Maler.

Das fuͤnfte Huͤlfsmittel beſteht in dem verſchiedenen Anſehen der kleinen Theile der Gegenſtaͤnde. Erſcheinen dieſe deutlich, ſo halten wir die Sache fuͤr nahe; ſehen wir ſie aber undeutlich oder gar nicht, ſo ſchaͤtzen wir die Entfernung groͤßer. Denn die kleinen Theile der Gegenſtaͤnde werden unter deſto kleinern Winkeln geſehen, je weiter ſie von uns ab liegen, und bey großen Entfernungen werden dieſe Winkel ſo klein, daß ſie gar nicht mehr, oder doch nur ſehr undeutlich, wahrgenommen werden.

Das ſechſte und letzte endlich liegt darinn, daß man nicht eine Sache allein, ſondern auch alle umliegende zugleich mit betrachtet. Sehen wir z. B. einen entlegnen Kirchthurm, ſo erblicken wir gewoͤhnlich mehrere Felder, Gebaͤude rc. zwiſchen demſelben und uns, deren Entfernungen wir ſchaͤtzen. Dies veranlaſſet natuͤrlich das Urtheil, daß des Thurms Entfernung noch groͤßer, als die geſchaͤtzte Entfernung der Felder rc. ſey. Porterfield vergleicht dieſe Art, Entfernungen zu bemerken, ſehr richtig mit der Vorſtellung, die wir uns von der ſeit einer gewiſſen Epoche unſers Lebens verfloſſenen Zeit machen. Wir urtheilen nemlich, daß ſeit dieſer Epoche eine lange Zeit verfloſſen ſey, wenn wir uns ſeit derſelben vieler Gedanken und Handlungen, auch nur dunkel, erinnern; und wie dieſe dunkle Erinnerung eigentlich mit der Vorſtellung einer langen Zeit ganz einerley iſt, ſo iſt die dunkle Vorſtellung vieler zwiſchenliegenden Dinge mit dem Begrif einer großen Entfernung einerley.

Je mehr der Zwiſchenraum von dem Auge bis an den Gegenſtand in kleine ſich von einander unterſcheidende Theile abgetheilt iſt, deſto groͤßer wird er uns vorkommen. Darum ſcheinen Entfernungen auf ebnen Flaͤchen groͤßer,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0861" xml:id="P.1.847" n="847"/><lb/>
i&#x017F;t. Daher &#x017F;cheinen uns helle Ko&#x0364;rper unter gleichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden na&#x0364;her, als dunkle. Ein Zimmer &#x017F;cheint kleiner, wenn die Wa&#x0364;nde fri&#x017F;ch geweißet, und die Berge &#x017F;cheinen na&#x0364;her, wenn &#x017F;ie mit Schnee bedeckt &#x017F;ind. Aus eben dem Grunde &#x017F;cheinen bey neblichtem Wetter die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde entfernter, als bey hellem u. &#x017F;. w. Hierauf gru&#x0364;ndet &#x017F;ich auch die Luftper&#x017F;pectiv der Maler.</p>
          <p>Das fu&#x0364;nfte Hu&#x0364;lfsmittel be&#x017F;teht in dem ver&#x017F;chiedenen An&#x017F;ehen der kleinen Theile der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde. Er&#x017F;cheinen die&#x017F;e deutlich, &#x017F;o halten wir die Sache fu&#x0364;r nahe; &#x017F;ehen wir &#x017F;ie aber undeutlich oder gar nicht, &#x017F;o &#x017F;cha&#x0364;tzen wir die Entfernung gro&#x0364;ßer. Denn die kleinen Theile der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde werden unter de&#x017F;to kleinern Winkeln ge&#x017F;ehen, je weiter &#x017F;ie von uns ab liegen, und bey großen Entfernungen werden die&#x017F;e Winkel &#x017F;o klein, daß &#x017F;ie gar nicht mehr, oder doch nur &#x017F;ehr undeutlich, wahrgenommen werden.</p>
          <p>Das &#x017F;ech&#x017F;te und letzte endlich liegt darinn, daß man nicht eine Sache allein, &#x017F;ondern auch alle umliegende zugleich mit betrachtet. Sehen wir z. B. einen entlegnen Kirchthurm, &#x017F;o erblicken wir gewo&#x0364;hnlich mehrere Felder, Geba&#x0364;ude rc. zwi&#x017F;chen dem&#x017F;elben und uns, deren Entfernungen wir &#x017F;cha&#x0364;tzen. Dies veranla&#x017F;&#x017F;et natu&#x0364;rlich das Urtheil, daß des Thurms Entfernung noch gro&#x0364;ßer, als die ge&#x017F;cha&#x0364;tzte Entfernung der Felder rc. &#x017F;ey. Porterfield vergleicht die&#x017F;e Art, Entfernungen zu bemerken, &#x017F;ehr richtig mit der Vor&#x017F;tellung, die wir uns von der &#x017F;eit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Epoche un&#x017F;ers Lebens verflo&#x017F;&#x017F;enen Zeit machen. Wir urtheilen nemlich, daß &#x017F;eit die&#x017F;er Epoche eine lange Zeit verflo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ey, wenn wir uns &#x017F;eit der&#x017F;elben vieler Gedanken und Handlungen, auch nur dunkel, erinnern; und wie die&#x017F;e dunkle Erinnerung eigentlich mit der Vor&#x017F;tellung einer langen Zeit ganz einerley i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t die dunkle Vor&#x017F;tellung vieler zwi&#x017F;chenliegenden Dinge mit dem Begrif einer großen Entfernung einerley.</p>
          <p>Je mehr der Zwi&#x017F;chenraum von dem Auge bis an den Gegen&#x017F;tand in kleine &#x017F;ich von einander unter&#x017F;cheidende Theile abgetheilt i&#x017F;t, de&#x017F;to gro&#x0364;ßer wird er uns vorkommen. Darum &#x017F;cheinen Entfernungen auf ebnen Fla&#x0364;chen gro&#x0364;ßer,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[847/0861] iſt. Daher ſcheinen uns helle Koͤrper unter gleichen Umſtaͤnden naͤher, als dunkle. Ein Zimmer ſcheint kleiner, wenn die Waͤnde friſch geweißet, und die Berge ſcheinen naͤher, wenn ſie mit Schnee bedeckt ſind. Aus eben dem Grunde ſcheinen bey neblichtem Wetter die Gegenſtaͤnde entfernter, als bey hellem u. ſ. w. Hierauf gruͤndet ſich auch die Luftperſpectiv der Maler. Das fuͤnfte Huͤlfsmittel beſteht in dem verſchiedenen Anſehen der kleinen Theile der Gegenſtaͤnde. Erſcheinen dieſe deutlich, ſo halten wir die Sache fuͤr nahe; ſehen wir ſie aber undeutlich oder gar nicht, ſo ſchaͤtzen wir die Entfernung groͤßer. Denn die kleinen Theile der Gegenſtaͤnde werden unter deſto kleinern Winkeln geſehen, je weiter ſie von uns ab liegen, und bey großen Entfernungen werden dieſe Winkel ſo klein, daß ſie gar nicht mehr, oder doch nur ſehr undeutlich, wahrgenommen werden. Das ſechſte und letzte endlich liegt darinn, daß man nicht eine Sache allein, ſondern auch alle umliegende zugleich mit betrachtet. Sehen wir z. B. einen entlegnen Kirchthurm, ſo erblicken wir gewoͤhnlich mehrere Felder, Gebaͤude rc. zwiſchen demſelben und uns, deren Entfernungen wir ſchaͤtzen. Dies veranlaſſet natuͤrlich das Urtheil, daß des Thurms Entfernung noch groͤßer, als die geſchaͤtzte Entfernung der Felder rc. ſey. Porterfield vergleicht dieſe Art, Entfernungen zu bemerken, ſehr richtig mit der Vorſtellung, die wir uns von der ſeit einer gewiſſen Epoche unſers Lebens verfloſſenen Zeit machen. Wir urtheilen nemlich, daß ſeit dieſer Epoche eine lange Zeit verfloſſen ſey, wenn wir uns ſeit derſelben vieler Gedanken und Handlungen, auch nur dunkel, erinnern; und wie dieſe dunkle Erinnerung eigentlich mit der Vorſtellung einer langen Zeit ganz einerley iſt, ſo iſt die dunkle Vorſtellung vieler zwiſchenliegenden Dinge mit dem Begrif einer großen Entfernung einerley. Je mehr der Zwiſchenraum von dem Auge bis an den Gegenſtand in kleine ſich von einander unterſcheidende Theile abgetheilt iſt, deſto groͤßer wird er uns vorkommen. Darum ſcheinen Entfernungen auf ebnen Flaͤchen groͤßer,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/861
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 847. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/861>, abgerufen am 21.11.2024.