sey. Er glaubt alsdann nicht mehr, daß die Natur seiner Vorstellung widersprechen könne, und wenn neue Beobachtungen gegen ihn streiten, so erzwingt er sich durch Witz und Geschicklichkeit neue Erklärungen oder Zusätze zur Hypothese selbst, welche meistentheils nichts anders als neue Irrthümer sind, und den Epicykeln des ptolemäischen Weltsystems gleichen. Hypothesen, die man mit dergleichem Flickwerke versehen muß, um sie neuern Beobachtungen anzupassen, sind im höchsten Grade verdächtig. So sinnreich auch bisweilen ihre Vertheidiger die Beobachtungen zu drehen und die Widersprüche zu heben wissen, so muß doch der unbefangene Naturforscher nie vergessen, daß die Begierde, etwas zu behaupten, der ärgste Sophist sey, den man sich gedenken kan, und daß eine einzige Thatsache mehr wahren Werth habe, als das künstlichste Gebäude von solchen Erklärungen.
Bey dem Studium der Geschichte der Physik bleibt man zweifelhaft, ob die Hypothesen dem Fortgange dieser Wissenschaft mehr geschadet oder genützt haben. So viele wichtige Entdeckungen aus ihnen entsprungen sind, so hat doch auch der alle Grenzen übersteigende Mißbrauch derselben die Wissenschaft bis zum Anfange des vorigen Jahrhunderts in ihrer ersten Kindheit zurückgehalten, und ihrem Wachsthume noch bis in die gegenwärtigen Zeiten starke Hindernisse entgegengesetzt. Die ganze Schule des Descartes behaußrete, alle Dinge nach der Vorstellungsart ihres Lehrers erklären zu können, und suchte in den Beobachtungen nichts weiter, als Bestätigung dieser schon vorher gefaßten Begriffe und Meynungen auf. So wurden die vortreflichsten Erfahrungen verdrehet, und statt der Geschichte der Natur ward eine Geschichte meuschlicher Vorstellungen erzählt, bey der man sich unglaubliche Mühe gegeben hat, unnütze Begriffe zu erfinden und zu vertheidigen. Newton machte endlich diesem Unwesen ein Ende. Er war so sehr wider die Hypothesen dieser Art eingenommen, daß er seine Theorien schlechterdings nicht also genannt wissen wollte, so viel sie auch noch hin und wieder Hypothetisches enthalten. Er suchte die Physiker auf den
ſey. Er glaubt alsdann nicht mehr, daß die Natur ſeiner Vorſtellung widerſprechen koͤnne, und wenn neue Beobachtungen gegen ihn ſtreiten, ſo erzwingt er ſich durch Witz und Geſchicklichkeit neue Erklaͤrungen oder Zuſaͤtze zur Hypotheſe ſelbſt, welche meiſtentheils nichts anders als neue Irrthuͤmer ſind, und den Epicykeln des ptolemaͤiſchen Weltſyſtems gleichen. Hypotheſen, die man mit dergleichem Flickwerke verſehen muß, um ſie neuern Beobachtungen anzupaſſen, ſind im hoͤchſten Grade verdaͤchtig. So ſinnreich auch bisweilen ihre Vertheidiger die Beobachtungen zu drehen und die Widerſpruͤche zu heben wiſſen, ſo muß doch der unbefangene Naturforſcher nie vergeſſen, daß die Begierde, etwas zu behaupten, der aͤrgſte Sophiſt ſey, den man ſich gedenken kan, und daß eine einzige Thatſache mehr wahren Werth habe, als das kuͤnſtlichſte Gebaͤude von ſolchen Erklaͤrungen.
Bey dem Studium der Geſchichte der Phyſik bleibt man zweifelhaft, ob die Hypotheſen dem Fortgange dieſer Wiſſenſchaft mehr geſchadet oder genuͤtzt haben. So viele wichtige Entdeckungen aus ihnen entſprungen ſind, ſo hat doch auch der alle Grenzen uͤberſteigende Mißbrauch derſelben die Wiſſenſchaft bis zum Anfange des vorigen Jahrhunderts in ihrer erſten Kindheit zuruͤckgehalten, und ihrem Wachsthume noch bis in die gegenwaͤrtigen Zeiten ſtarke Hinderniſſe entgegengeſetzt. Die ganze Schule des Descartes behaußrete, alle Dinge nach der Vorſtellungsart ihres Lehrers erklaͤren zu koͤnnen, und ſuchte in den Beobachtungen nichts weiter, als Beſtaͤtigung dieſer ſchon vorher gefaßten Begriffe und Meynungen auf. So wurden die vortreflichſten Erfahrungen verdrehet, und ſtatt der Geſchichte der Natur ward eine Geſchichte meuſchlicher Vorſtellungen erzaͤhlt, bey der man ſich unglaubliche Muͤhe gegeben hat, unnuͤtze Begriffe zu erfinden und zu vertheidigen. Newton machte endlich dieſem Unweſen ein Ende. Er war ſo ſehr wider die Hypotheſen dieſer Art eingenommen, daß er ſeine Theorien ſchlechterdings nicht alſo genannt wiſſen wollte, ſo viel ſie auch noch hin und wieder Hypothetiſches enthalten. Er ſuchte die Phyſiker auf den
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ſey. Er glaubt alsdann nicht mehr, daß die Natur ſeiner Vorſtellung widerſprechen koͤnne, und wenn neue Beobachtungen gegen ihn ſtreiten, ſo erzwingt er ſich durch Witz und Geſchicklichkeit neue Erklaͤrungen oder Zuſaͤtze zur Hypotheſe ſelbſt, welche meiſtentheils nichts anders als neue Irrthuͤmer ſind, und den Epicykeln des ptolemaͤiſchen Weltſyſtems gleichen. Hypotheſen, die man mit dergleichem Flickwerke verſehen muß, um ſie neuern Beobachtungen anzupaſſen, ſind im hoͤchſten Grade verdaͤchtig. So ſinnreich auch bisweilen ihre Vertheidiger die Beobachtungen zu drehen und die Widerſpruͤche zu heben wiſſen, ſo muß doch der unbefangene Naturforſcher nie vergeſſen, daß die Begierde, etwas zu behaupten, der aͤrgſte Sophiſt ſey, den man ſich gedenken kan, und daß eine einzige Thatſache mehr wahren Werth habe, als das kuͤnſtlichſte Gebaͤude von ſolchen Erklaͤrungen.
Bey dem Studium der Geſchichte der Phyſik bleibt man zweifelhaft, ob die Hypotheſen dem Fortgange dieſer Wiſſenſchaft mehr geſchadet oder genuͤtzt haben. So viele wichtige Entdeckungen aus ihnen entſprungen ſind, ſo hat doch auch der alle Grenzen uͤberſteigende Mißbrauch derſelben die Wiſſenſchaft bis zum Anfange des vorigen Jahrhunderts in ihrer erſten Kindheit zuruͤckgehalten, und ihrem Wachsthume noch bis in die gegenwaͤrtigen Zeiten ſtarke Hinderniſſe entgegengeſetzt. Die ganze Schule des Descartes behaußrete, alle Dinge nach der Vorſtellungsart ihres Lehrers erklaͤren zu koͤnnen, und ſuchte in den Beobachtungen nichts weiter, als Beſtaͤtigung dieſer ſchon vorher gefaßten Begriffe und Meynungen auf. So wurden die vortreflichſten Erfahrungen verdrehet, und ſtatt der Geſchichte der Natur ward eine Geſchichte meuſchlicher Vorſtellungen erzaͤhlt, bey der man ſich unglaubliche Muͤhe gegeben hat, unnuͤtze Begriffe zu erfinden und zu vertheidigen. Newton machte endlich dieſem Unweſen ein Ende. Er war ſo ſehr wider die Hypotheſen dieſer Art eingenommen, daß er ſeine Theorien ſchlechterdings nicht alſo genannt wiſſen wollte, ſo viel ſie auch noch hin und wieder Hypothetiſches enthalten. Er ſuchte die Phyſiker auf den
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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/684>, abgerufen am 22.11.2024.
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