Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798.
Der Begrif von Ruhe ist verneinend. Er zeigt blos Abwesenheit der Bewegung an. Es läßt sich dabey nicht, wie bey der Bewegung, ein Mehreres und Minderes oder eine Folge verschiedener Grade gedenken: sondern die Ruhe ist entweder gar nicht, oder ganz vorhanden. Weil nun gleiche Bewegungen nach entgegengesetzten Richtungen einander aufheben, und sich also als entgegengesetzte Größen betrachten lassen, deren eine mit +, die andere mit -- bezeichnet werden kan, so ist die Ruhe, oder der Mangel aller Bewegung, natürlicher Weise als die Null oder als der mittlere Zustand zwischen entgegengesetzten Bewegungen anzusehen. Und weil man sich vorstellt, daß entgegengesetzte Bewegungen von entgegengesetzten Kräften hervorgebracht werden, so muß man sich nothwendig auch vorstellen, daß die Ruhe von gar keiner Kraft hervorgebracht werde, d. i. daß ein Körper ruhe, wenn entweder keine Kraft auf ihn wirkt, oder wenn sich alle in ihn wirkende Kräfte gerade aufheben, welcher letztere Fall das Gleichgewicht der Kräfte genannt wird. So natürlich und leicht nun dieses ist, so hat es doch sehr lange gedauert, ehe man zu wohlgeordneten Vorstellungen von entgegengesetzten Bewegungen und von Ruhe hat gelangen können. Die Scholastiker stritten über die Frage, ob Ruhe etwas Positives, oder eine bloße Privation sey. Descartes (Princip. philos. P. II. §. 26. 27. 44.) war in der Bestimmung dieser Begriffe sehr unglücklich. Er sieht es als ein falsches Vorurtheil an, daß man zur Bewegung mehr Kraft erfordere, als zur Ruhe, setzt auch nicht die vorwärtsgehende Bewegung der rückwärtsgehenden, sondern Bewegung überhaupt der Ruhe entgegen. (Notandum est, unum motum alteri motui aeque veloci nullo modo esse contrarium, sed proprie tantum duplicem his inveniri contrarietatem. Unam inter motum et quietem, vel etiam inter motus celeritatem et tarditatem, quatenus
Der Begrif von Ruhe iſt verneinend. Er zeigt blos Abweſenheit der Bewegung an. Es laͤßt ſich dabey nicht, wie bey der Bewegung, ein Mehreres und Minderes oder eine Folge verſchiedener Grade gedenken: ſondern die Ruhe iſt entweder gar nicht, oder ganz vorhanden. Weil nun gleiche Bewegungen nach entgegengeſetzten Richtungen einander aufheben, und ſich alſo als entgegengeſetzte Groͤßen betrachten laſſen, deren eine mit +, die andere mit — bezeichnet werden kan, ſo iſt die Ruhe, oder der Mangel aller Bewegung, natuͤrlicher Weiſe als die Null oder als der mittlere Zuſtand zwiſchen entgegengeſetzten Bewegungen anzuſehen. Und weil man ſich vorſtellt, daß entgegengeſetzte Bewegungen von entgegengeſetzten Kraͤften hervorgebracht werden, ſo muß man ſich nothwendig auch vorſtellen, daß die Ruhe von gar keiner Kraft hervorgebracht werde, d. i. daß ein Koͤrper ruhe, wenn entweder keine Kraft auf ihn wirkt, oder wenn ſich alle in ihn wirkende Kraͤfte gerade aufheben, welcher letztere Fall das Gleichgewicht der Kraͤfte genannt wird. So natuͤrlich und leicht nun dieſes iſt, ſo hat es doch ſehr lange gedauert, ehe man zu wohlgeordneten Vorſtellungen von entgegengeſetzten Bewegungen und von Ruhe hat gelangen koͤnnen. Die Scholaſtiker ſtritten uͤber die Frage, ob Ruhe etwas Poſitives, oder eine bloße Privation ſey. Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 26. 27. 44.) war in der Beſtimmung dieſer Begriffe ſehr ungluͤcklich. Er ſieht es als ein falſches Vorurtheil an, daß man zur Bewegung mehr Kraft erfordere, als zur Ruhe, ſetzt auch nicht die vorwaͤrtsgehende Bewegung der ruͤckwaͤrtsgehenden, ſondern Bewegung uͤberhaupt der Ruhe entgegen. (Notandum eſt, unum motum alteri motui aeque veloci nullo modo eſſe contrarium, ſed proprie tantum duplicem his inveniri contrarietatem. Unam inter motum et quietem, vel etiam inter motus celeritatem et tarditatem, quatenus <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0739" xml:id="P.3.733" n="733"/><lb/> erſchweren, wenn man nicht allezeit gewiſſe Standpunkte als abſolut ruhend anſehen wollte. Die Folge davon iſt freylich dieſe, daß man ſo nur relative Bewegungen kennen lernt; es iſt aber auch ſelten oder gar nicht noͤthig, die abſoluten in Betrachtung zu ziehen, ſ. <hi rendition="#b">Bewegung, relative.</hi></p> <p>Der Begrif von Ruhe iſt verneinend. Er zeigt blos Abweſenheit der Bewegung an. Es laͤßt ſich dabey nicht, wie bey der Bewegung, ein Mehreres und Minderes oder eine Folge verſchiedener Grade gedenken: ſondern die Ruhe iſt entweder gar nicht, oder ganz vorhanden. Weil nun gleiche Bewegungen nach entgegengeſetzten Richtungen einander aufheben, und ſich alſo als entgegengeſetzte Groͤßen betrachten laſſen, deren eine mit +, die andere mit — bezeichnet werden kan, ſo iſt die Ruhe, oder der Mangel aller Bewegung, natuͤrlicher Weiſe als die <hi rendition="#b">Null</hi> oder als der mittlere Zuſtand zwiſchen entgegengeſetzten Bewegungen anzuſehen. Und weil man ſich vorſtellt, daß entgegengeſetzte Bewegungen von entgegengeſetzten Kraͤften hervorgebracht werden, ſo muß man ſich nothwendig auch vorſtellen, daß die Ruhe von <hi rendition="#b">gar keiner</hi> Kraft hervorgebracht werde, d. i. daß ein Koͤrper ruhe, wenn entweder keine Kraft auf ihn wirkt, oder wenn ſich alle in ihn wirkende Kraͤfte gerade aufheben, welcher letztere Fall das <hi rendition="#b">Gleichgewicht der Kraͤfte</hi> genannt wird. So natuͤrlich und leicht nun dieſes iſt, ſo hat es doch ſehr lange gedauert, ehe man zu wohlgeordneten Vorſtellungen von entgegengeſetzten Bewegungen und von Ruhe hat gelangen koͤnnen. Die Scholaſtiker ſtritten uͤber die Frage, ob Ruhe etwas Poſitives, oder eine bloße Privation ſey. <hi rendition="#b">Descartes</hi> <hi rendition="#aq">(Princip. philoſ. P. II. §. 26. 27. 44.)</hi> war in der Beſtimmung dieſer Begriffe ſehr ungluͤcklich. Er ſieht es als ein falſches Vorurtheil an, daß man zur Bewegung mehr Kraft erfordere, als zur Ruhe, ſetzt auch nicht die vorwaͤrtsgehende Bewegung der ruͤckwaͤrtsgehenden, ſondern Bewegung uͤberhaupt der Ruhe entgegen. <hi rendition="#aq">(Notandum eſt, unum motum alteri motui aeque veloci nullo modo eſſe contrarium, ſed proprie tantum duplicem his inveniri contrarietatem. Unam inter <hi rendition="#i">motum et quietem,</hi> vel etiam inter motus celeritatem et tarditatem, quatenus<lb/></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [733/0739]
erſchweren, wenn man nicht allezeit gewiſſe Standpunkte als abſolut ruhend anſehen wollte. Die Folge davon iſt freylich dieſe, daß man ſo nur relative Bewegungen kennen lernt; es iſt aber auch ſelten oder gar nicht noͤthig, die abſoluten in Betrachtung zu ziehen, ſ. Bewegung, relative.
Der Begrif von Ruhe iſt verneinend. Er zeigt blos Abweſenheit der Bewegung an. Es laͤßt ſich dabey nicht, wie bey der Bewegung, ein Mehreres und Minderes oder eine Folge verſchiedener Grade gedenken: ſondern die Ruhe iſt entweder gar nicht, oder ganz vorhanden. Weil nun gleiche Bewegungen nach entgegengeſetzten Richtungen einander aufheben, und ſich alſo als entgegengeſetzte Groͤßen betrachten laſſen, deren eine mit +, die andere mit — bezeichnet werden kan, ſo iſt die Ruhe, oder der Mangel aller Bewegung, natuͤrlicher Weiſe als die Null oder als der mittlere Zuſtand zwiſchen entgegengeſetzten Bewegungen anzuſehen. Und weil man ſich vorſtellt, daß entgegengeſetzte Bewegungen von entgegengeſetzten Kraͤften hervorgebracht werden, ſo muß man ſich nothwendig auch vorſtellen, daß die Ruhe von gar keiner Kraft hervorgebracht werde, d. i. daß ein Koͤrper ruhe, wenn entweder keine Kraft auf ihn wirkt, oder wenn ſich alle in ihn wirkende Kraͤfte gerade aufheben, welcher letztere Fall das Gleichgewicht der Kraͤfte genannt wird. So natuͤrlich und leicht nun dieſes iſt, ſo hat es doch ſehr lange gedauert, ehe man zu wohlgeordneten Vorſtellungen von entgegengeſetzten Bewegungen und von Ruhe hat gelangen koͤnnen. Die Scholaſtiker ſtritten uͤber die Frage, ob Ruhe etwas Poſitives, oder eine bloße Privation ſey. Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 26. 27. 44.) war in der Beſtimmung dieſer Begriffe ſehr ungluͤcklich. Er ſieht es als ein falſches Vorurtheil an, daß man zur Bewegung mehr Kraft erfordere, als zur Ruhe, ſetzt auch nicht die vorwaͤrtsgehende Bewegung der ruͤckwaͤrtsgehenden, ſondern Bewegung uͤberhaupt der Ruhe entgegen. (Notandum eſt, unum motum alteri motui aeque veloci nullo modo eſſe contrarium, ſed proprie tantum duplicem his inveniri contrarietatem. Unam inter motum et quietem, vel etiam inter motus celeritatem et tarditatem, quatenus
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