Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.Man hat aber alle diese gekünstelten Erklärungen nicht nöthig, wenn man überlegt, wie es mit der Erlernung des Sehens zugehe. Ursprünglich mag in uns wegen des doppelten Bildes eine doppelte Empfindung entstanden seyn; allmählich aber fanden wir, daß, wenn zwo übereinstimmende Punkte der Netzhäute in beyden Augen gerührt wurden, der Gegenstand nur einfach vorhanden war. Dadurch ward es uns zur Fertigkeit, von dem so gesehenen Dinge beym ordentlichen Gebrauche der Augen, als von einem einzelnen, zu urtheilen. So haben sich gewisse bestimmte Stellen oder Nervenspitzen in den Netzhäuten beyder Augen gleichsam an einander gewöhnt, und man sieht nur einfach, wenn die beyden Bilder auf solche Stellen fallen. Fallen aber die Bilder einer Sache auf verschiedene nicht zusammengewöhnte Stellen, so sieht man wirklich doppelt, s. Horopter. Nach dieser sehr einfachen Erklärung ist es mit dem Gesicht, wie mit dem Gefühl. Wir fühlen auch jede Sache nur einfach, mit zwo Händen, oder zween Fingern, wenn wir nicht die gewöhnliche Lage der Finger verändern. So hält man z. B. eine Kugel, die man zwischen zwey kreuzweis über einander gelegte Finger fasset, für zwey, weil die entgegengesetzten Seiten dieser Finger nie sind gebraucht worden, zugleich eine Sache, sondern nur zwo zu fühlen; welches gutgewählte Gleichniß schon Descartes (Dioptrice Cap. VI. §. 18.) anführt. Eben so erklärt sich, warum wir mit zwey Ohren nicht doppelt hören, u. s. w. Cheselden führt in seiner Anatomie das Beyspiel eines Mannes an, dem ein Schlag auf den Kopf das eine Auge verdrückte, und der im Anfang alles doppelt sahe, bis ihm nach und nach zuerst die gewöhnlichen, und endlich alle Gegenstände wieder einfach schienen, ohne daß das Auge die gehörige Lage wieder erhielt. Einen ähnlichen Fall erzählt Smith (Lehrbegrif der Opt. der Uebers. S. 397.). Dies sind starke Beweise dafür, daß das Einfachsehen so, wie alles Sehen, von Gewohnheit abhängt. Porterfield will zwar der Gewohnheit nichts einräumen, und D. Reid (Inquiry into the human mind, p. 257.) hält die Uebereinstimmung Man hat aber alle dieſe gekuͤnſtelten Erklaͤrungen nicht noͤthig, wenn man uͤberlegt, wie es mit der Erlernung des Sehens zugehe. Urſpruͤnglich mag in uns wegen des doppelten Bildes eine doppelte Empfindung entſtanden ſeyn; allmaͤhlich aber fanden wir, daß, wenn zwo uͤbereinſtimmende Punkte der Netzhaͤute in beyden Augen geruͤhrt wurden, der Gegenſtand nur einfach vorhanden war. Dadurch ward es uns zur Fertigkeit, von dem ſo geſehenen Dinge beym ordentlichen Gebrauche der Augen, als von einem einzelnen, zu urtheilen. So haben ſich gewiſſe beſtimmte Stellen oder Nervenſpitzen in den Netzhaͤuten beyder Augen gleichſam an einander gewoͤhnt, und man ſieht nur einfach, wenn die beyden Bilder auf ſolche Stellen fallen. Fallen aber die Bilder einer Sache auf verſchiedene nicht zuſammengewoͤhnte Stellen, ſo ſieht man wirklich doppelt, ſ. Horopter. Nach dieſer ſehr einfachen Erklaͤrung iſt es mit dem Geſicht, wie mit dem Gefuͤhl. Wir fuͤhlen auch jede Sache nur einfach, mit zwo Haͤnden, oder zween Fingern, wenn wir nicht die gewoͤhnliche Lage der Finger veraͤndern. So haͤlt man z. B. eine Kugel, die man zwiſchen zwey kreuzweis uͤber einander gelegte Finger faſſet, fuͤr zwey, weil die entgegengeſetzten Seiten dieſer Finger nie ſind gebraucht worden, zugleich eine Sache, ſondern nur zwo zu fuͤhlen; welches gutgewaͤhlte Gleichniß ſchon Descartes (Dioptrice Cap. VI. §. 18.) anfuͤhrt. Eben ſo erklaͤrt ſich, warum wir mit zwey Ohren nicht doppelt hoͤren, u. ſ. w. Cheſelden fuͤhrt in ſeiner Anatomie das Beyſpiel eines Mannes an, dem ein Schlag auf den Kopf das eine Auge verdruͤckte, und der im Anfang alles doppelt ſahe, bis ihm nach und nach zuerſt die gewoͤhnlichen, und endlich alle Gegenſtaͤnde wieder einfach ſchienen, ohne daß das Auge die gehoͤrige Lage wieder erhielt. Einen aͤhnlichen Fall erzaͤhlt Smith (Lehrbegrif der Opt. der Ueberſ. S. 397.). Dies ſind ſtarke Beweiſe dafuͤr, daß das Einfachſehen ſo, wie alles Sehen, von Gewohnheit abhaͤngt. Porterfield will zwar der Gewohnheit nichts einraͤumen, und D. Reid (Inquiry into the human mind, p. 257.) haͤlt die Uebereinſtimmung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <pb facs="#f0031" xml:id="P.4.21" n="21"/><lb/> </p> <p>Man hat aber alle dieſe gekuͤnſtelten Erklaͤrungen nicht noͤthig, wenn man uͤberlegt, wie es mit der Erlernung des Sehens zugehe. Urſpruͤnglich mag in uns wegen des doppelten Bildes eine doppelte Empfindung entſtanden ſeyn; allmaͤhlich aber fanden wir, daß, wenn zwo <hi rendition="#b">uͤbereinſtimmende Punkte</hi> der Netzhaͤute in beyden Augen geruͤhrt wurden, der Gegenſtand nur einfach vorhanden war. Dadurch ward es uns zur Fertigkeit, von dem ſo geſehenen Dinge beym ordentlichen Gebrauche der Augen, als von einem einzelnen, zu urtheilen. So haben ſich gewiſſe beſtimmte Stellen oder Nervenſpitzen in den Netzhaͤuten beyder Augen gleichſam an einander gewoͤhnt, und man ſieht nur einfach, wenn die beyden Bilder auf ſolche Stellen fallen. Fallen aber die Bilder einer Sache auf verſchiedene nicht zuſammengewoͤhnte Stellen, ſo ſieht man wirklich doppelt, <hi rendition="#b">ſ. Horopter.</hi></p> <p>Nach dieſer ſehr einfachen Erklaͤrung iſt es mit dem Geſicht, wie mit dem Gefuͤhl. Wir <hi rendition="#b">fuͤhlen</hi> auch jede Sache nur <hi rendition="#b">einfach, mit zwo Haͤnden,</hi> oder zween Fingern, wenn wir nicht die gewoͤhnliche Lage der Finger veraͤndern. So haͤlt man z. B. eine Kugel, die man zwiſchen zwey kreuzweis uͤber einander gelegte Finger faſſet, fuͤr zwey, weil die entgegengeſetzten Seiten dieſer Finger nie ſind gebraucht worden, zugleich eine Sache, ſondern nur zwo zu fuͤhlen; welches gutgewaͤhlte Gleichniß ſchon <hi rendition="#b">Descartes</hi> (<hi rendition="#aq">Dioptrice Cap. VI. §. 18.</hi>) anfuͤhrt. Eben ſo erklaͤrt ſich, warum wir mit zwey Ohren nicht doppelt hoͤren, u. ſ. w. <hi rendition="#b">Cheſelden</hi> fuͤhrt in ſeiner Anatomie das Beyſpiel eines Mannes an, dem ein Schlag auf den Kopf das eine Auge verdruͤckte, und der im Anfang alles doppelt ſahe, bis ihm nach und nach zuerſt die gewoͤhnlichen, und endlich alle Gegenſtaͤnde wieder einfach ſchienen, ohne daß das Auge die gehoͤrige Lage wieder erhielt. Einen aͤhnlichen Fall erzaͤhlt <hi rendition="#b">Smith</hi> (Lehrbegrif der Opt. der Ueberſ. S. 397.). Dies ſind ſtarke Beweiſe dafuͤr, daß das Einfachſehen ſo, wie alles Sehen, von Gewohnheit abhaͤngt. <hi rendition="#b">Porterfield</hi> will zwar der Gewohnheit nichts einraͤumen, und <hi rendition="#b">D. Reid</hi> (<hi rendition="#aq">Inquiry into the human mind, p. 257.</hi>) haͤlt die Uebereinſtimmung<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0031]
Man hat aber alle dieſe gekuͤnſtelten Erklaͤrungen nicht noͤthig, wenn man uͤberlegt, wie es mit der Erlernung des Sehens zugehe. Urſpruͤnglich mag in uns wegen des doppelten Bildes eine doppelte Empfindung entſtanden ſeyn; allmaͤhlich aber fanden wir, daß, wenn zwo uͤbereinſtimmende Punkte der Netzhaͤute in beyden Augen geruͤhrt wurden, der Gegenſtand nur einfach vorhanden war. Dadurch ward es uns zur Fertigkeit, von dem ſo geſehenen Dinge beym ordentlichen Gebrauche der Augen, als von einem einzelnen, zu urtheilen. So haben ſich gewiſſe beſtimmte Stellen oder Nervenſpitzen in den Netzhaͤuten beyder Augen gleichſam an einander gewoͤhnt, und man ſieht nur einfach, wenn die beyden Bilder auf ſolche Stellen fallen. Fallen aber die Bilder einer Sache auf verſchiedene nicht zuſammengewoͤhnte Stellen, ſo ſieht man wirklich doppelt, ſ. Horopter.
Nach dieſer ſehr einfachen Erklaͤrung iſt es mit dem Geſicht, wie mit dem Gefuͤhl. Wir fuͤhlen auch jede Sache nur einfach, mit zwo Haͤnden, oder zween Fingern, wenn wir nicht die gewoͤhnliche Lage der Finger veraͤndern. So haͤlt man z. B. eine Kugel, die man zwiſchen zwey kreuzweis uͤber einander gelegte Finger faſſet, fuͤr zwey, weil die entgegengeſetzten Seiten dieſer Finger nie ſind gebraucht worden, zugleich eine Sache, ſondern nur zwo zu fuͤhlen; welches gutgewaͤhlte Gleichniß ſchon Descartes (Dioptrice Cap. VI. §. 18.) anfuͤhrt. Eben ſo erklaͤrt ſich, warum wir mit zwey Ohren nicht doppelt hoͤren, u. ſ. w. Cheſelden fuͤhrt in ſeiner Anatomie das Beyſpiel eines Mannes an, dem ein Schlag auf den Kopf das eine Auge verdruͤckte, und der im Anfang alles doppelt ſahe, bis ihm nach und nach zuerſt die gewoͤhnlichen, und endlich alle Gegenſtaͤnde wieder einfach ſchienen, ohne daß das Auge die gehoͤrige Lage wieder erhielt. Einen aͤhnlichen Fall erzaͤhlt Smith (Lehrbegrif der Opt. der Ueberſ. S. 397.). Dies ſind ſtarke Beweiſe dafuͤr, daß das Einfachſehen ſo, wie alles Sehen, von Gewohnheit abhaͤngt. Porterfield will zwar der Gewohnheit nichts einraͤumen, und D. Reid (Inquiry into the human mind, p. 257.) haͤlt die Uebereinſtimmung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription.
(2015-09-02T12:13:09Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2015-09-02T12:13:09Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |