Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.
Da ein Ding, um in seinem vorigen Zustande zu bleiben, keiner besondern Kraft bedarf (unter welchem Namen vielmehr die Ursachen der Aenderung des Zustands verstanden werden) so ist es ganz unschicklich, in der Trägheit selbst eine Kraft zu suchen, und sich des Namens Kraft der Trägheit (vis inertiae, force d'inertie) zu bedienen. So häufig auch dieser Name gebraucht worden ist, und noch gebraucht wird, so liegt doch darinn sogar ein Widerspruch, da die Folgen der Trägheit nichts anders sind, als Beharren im vorigen Zustande aus Mangel einer Kraft, also etwas, das Abwesenheit, nicht Daseyn von Kraft, voraussetzt. Man ist auf diese vermeinte Kraft der Trägheit dadurch gekommen, weil diejenige Kraft, die eine Aenderung des Zustands bewirkt, durch diese Aenderung gleichsam zu verschwinden, oder verlohren zu gehen scheint; daher man sich vorgestellt hat, es liege im trägen Körper eine entgegengesetzte Kraft, die sie aufzehre, s. Gegenwirkung. Man hat aber gar keine Veranlassung, so etwas anzunehmen; denn das vermeinte Verschwinden oder Verlohrengehen besteht ja blos darinn, daß die wirkende Kraft jetzt auf die ihr angemessene Aenderung des Zustands verwendet wird, und also ganz natürlich außerdem nichts weiter bewirken, oder sich nicht mehr durch diejenigen Wirkungen zeigen kan, durch die sie vorher sichtbar ward. Descartes (Princip. philos. P. II. §. 37.) lehrte, jeder Körper besitze eine Kraft, in seinem vorigen Zustande zu beharren, also die Ruhe fortzusetzen, wenn er ruhe, und in Bewegung zu bleiben, wenn er sich bewege. Hiebey aber wird erstens eine Kraft behauptet, wo man gar keine nöthig hat; zweytens wird von Descartes unter dem, was bey der Bewegung Zustand heißt, ganz irrig die Richtung nicht mit begriffen, sondern lediglich auf Bewegung mit einer gewissen Geschwindigkeit gesehen. Der bewegte Körper
Da ein Ding, um in ſeinem vorigen Zuſtande zu bleiben, keiner beſondern Kraft bedarf (unter welchem Namen vielmehr die Urſachen der Aenderung des Zuſtands verſtanden werden) ſo iſt es ganz unſchicklich, in der Traͤgheit ſelbſt eine Kraft zu ſuchen, und ſich des Namens Kraft der Traͤgheit (vis inertiae, force d'inertie) zu bedienen. So haͤufig auch dieſer Name gebraucht worden iſt, und noch gebraucht wird, ſo liegt doch darinn ſogar ein Widerſpruch, da die Folgen der Traͤgheit nichts anders ſind, als Beharren im vorigen Zuſtande aus Mangel einer Kraft, alſo etwas, das Abweſenheit, nicht Daſeyn von Kraft, vorausſetzt. Man iſt auf dieſe vermeinte Kraft der Traͤgheit dadurch gekommen, weil diejenige Kraft, die eine Aenderung des Zuſtands bewirkt, durch dieſe Aenderung gleichſam zu verſchwinden, oder verlohren zu gehen ſcheint; daher man ſich vorgeſtellt hat, es liege im traͤgen Koͤrper eine entgegengeſetzte Kraft, die ſie aufzehre, ſ. Gegenwirkung. Man hat aber gar keine Veranlaſſung, ſo etwas anzunehmen; denn das vermeinte Verſchwinden oder Verlohrengehen beſteht ja blos darinn, daß die wirkende Kraft jetzt auf die ihr angemeſſene Aenderung des Zuſtands verwendet wird, und alſo ganz natuͤrlich außerdem nichts weiter bewirken, oder ſich nicht mehr durch diejenigen Wirkungen zeigen kan, durch die ſie vorher ſichtbar ward. Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 37.) lehrte, jeder Koͤrper beſitze eine Kraft, in ſeinem vorigen Zuſtande zu beharren, alſo die Ruhe fortzuſetzen, wenn er ruhe, und in Bewegung zu bleiben, wenn er ſich bewege. Hiebey aber wird erſtens eine Kraft behauptet, wo man gar keine noͤthig hat; zweytens wird von Descartes unter dem, was bey der Bewegung Zuſtand heißt, ganz irrig die Richtung nicht mit begriffen, ſondern lediglich auf Bewegung mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit geſehen. Der bewegte Koͤrper <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0401" xml:id="P.4.391" n="391"/><lb/> der hoͤchern Mechanik, <hi rendition="#aq">I.</hi> Abſchn. Cap. 2.) eingefuͤhrt hat, ſtimmt mit der Erfahrung voͤllig uͤberein, und die Traͤgheit in dieſem Sinne laͤßt ſich unlaͤugbar zu den <hi rendition="#b">allgemeinen Phaͤnomenen</hi> der Koͤrper zaͤhlen.</p> <p>Da ein Ding, um in ſeinem vorigen Zuſtande zu bleiben, keiner beſondern <hi rendition="#b">Kraft</hi> bedarf (unter welchem Namen vielmehr die Urſachen der <hi rendition="#b">Aenderung</hi> des Zuſtands verſtanden werden) ſo iſt es ganz unſchicklich, in der Traͤgheit ſelbſt eine Kraft zu ſuchen, und ſich des Namens <hi rendition="#b">Kraft der Traͤgheit</hi> <hi rendition="#aq">(vis inertiae, <hi rendition="#i">force d'inertie)</hi></hi> zu bedienen. So haͤufig auch dieſer Name gebraucht worden iſt, und noch gebraucht wird, ſo liegt doch darinn ſogar ein Widerſpruch, da die Folgen der Traͤgheit nichts anders ſind, als Beharren im vorigen Zuſtande aus Mangel einer Kraft, alſo etwas, das Abweſenheit, nicht Daſeyn von Kraft, vorausſetzt.</p> <p>Man iſt auf dieſe vermeinte Kraft der Traͤgheit dadurch gekommen, weil diejenige Kraft, die eine Aenderung des Zuſtands bewirkt, durch dieſe Aenderung gleichſam zu verſchwinden, oder verlohren zu gehen ſcheint; daher man ſich vorgeſtellt hat, es liege im traͤgen Koͤrper eine entgegengeſetzte Kraft, die ſie aufzehre, <hi rendition="#b">ſ. Gegenwirkung.</hi> Man hat aber gar keine Veranlaſſung, ſo etwas anzunehmen; denn das vermeinte Verſchwinden oder Verlohrengehen beſteht ja blos darinn, daß die wirkende Kraft jetzt auf die ihr angemeſſene Aenderung des Zuſtands verwendet wird, und alſo ganz natuͤrlich <hi rendition="#b">außerdem nichts weiter</hi> bewirken, oder ſich nicht mehr durch diejenigen Wirkungen zeigen kan, durch die ſie vorher ſichtbar ward.</p> <p><hi rendition="#b">Descartes</hi> (<hi rendition="#aq">Princip. philoſ. P. II. §. 37.</hi>) lehrte, jeder Koͤrper beſitze eine Kraft, in ſeinem vorigen Zuſtande zu beharren, alſo die Ruhe fortzuſetzen, wenn er ruhe, und in Bewegung zu bleiben, wenn er ſich bewege. Hiebey aber wird erſtens eine Kraft behauptet, wo man gar keine noͤthig hat; zweytens wird von <hi rendition="#b">Descartes</hi> unter dem, was bey der Bewegung <hi rendition="#b">Zuſtand</hi> heißt, ganz irrig die Richtung nicht mit begriffen, ſondern lediglich auf Bewegung mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit geſehen. Der bewegte Koͤrper<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [391/0401]
der hoͤchern Mechanik, I. Abſchn. Cap. 2.) eingefuͤhrt hat, ſtimmt mit der Erfahrung voͤllig uͤberein, und die Traͤgheit in dieſem Sinne laͤßt ſich unlaͤugbar zu den allgemeinen Phaͤnomenen der Koͤrper zaͤhlen.
Da ein Ding, um in ſeinem vorigen Zuſtande zu bleiben, keiner beſondern Kraft bedarf (unter welchem Namen vielmehr die Urſachen der Aenderung des Zuſtands verſtanden werden) ſo iſt es ganz unſchicklich, in der Traͤgheit ſelbſt eine Kraft zu ſuchen, und ſich des Namens Kraft der Traͤgheit (vis inertiae, force d'inertie) zu bedienen. So haͤufig auch dieſer Name gebraucht worden iſt, und noch gebraucht wird, ſo liegt doch darinn ſogar ein Widerſpruch, da die Folgen der Traͤgheit nichts anders ſind, als Beharren im vorigen Zuſtande aus Mangel einer Kraft, alſo etwas, das Abweſenheit, nicht Daſeyn von Kraft, vorausſetzt.
Man iſt auf dieſe vermeinte Kraft der Traͤgheit dadurch gekommen, weil diejenige Kraft, die eine Aenderung des Zuſtands bewirkt, durch dieſe Aenderung gleichſam zu verſchwinden, oder verlohren zu gehen ſcheint; daher man ſich vorgeſtellt hat, es liege im traͤgen Koͤrper eine entgegengeſetzte Kraft, die ſie aufzehre, ſ. Gegenwirkung. Man hat aber gar keine Veranlaſſung, ſo etwas anzunehmen; denn das vermeinte Verſchwinden oder Verlohrengehen beſteht ja blos darinn, daß die wirkende Kraft jetzt auf die ihr angemeſſene Aenderung des Zuſtands verwendet wird, und alſo ganz natuͤrlich außerdem nichts weiter bewirken, oder ſich nicht mehr durch diejenigen Wirkungen zeigen kan, durch die ſie vorher ſichtbar ward.
Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 37.) lehrte, jeder Koͤrper beſitze eine Kraft, in ſeinem vorigen Zuſtande zu beharren, alſo die Ruhe fortzuſetzen, wenn er ruhe, und in Bewegung zu bleiben, wenn er ſich bewege. Hiebey aber wird erſtens eine Kraft behauptet, wo man gar keine noͤthig hat; zweytens wird von Descartes unter dem, was bey der Bewegung Zuſtand heißt, ganz irrig die Richtung nicht mit begriffen, ſondern lediglich auf Bewegung mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit geſehen. Der bewegte Koͤrper
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