Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.Dritter Abschnitt. zelnen an.3 Auf solche Verhältnisse hat die Staatsgewaltan sich keinen unmittelbaren Einfluss; es steht ihr hier im Allgemeinen nicht zu, ordnend einzugreifen und dem Einzelnen das sittlich wünschenswerthe oder das zweck- mässige Handeln aufzunöthigen. Was von der Staats- gewalt erwartet und angenommen wird, ist ein Minimum 3 Dieser Gesichtspunkt wird von vielen Schriftstellern richtig
hervorgehoben, aber nur selten richtig verwerthet. Die ganze Frage ist so zu stellen: welches sind die Verhältnisse, bezüglich deren der Einzelne nicht genöthigt ist, einen anderen Einfluss der Staatsgewalt zu dulden, als denjenigen, welcher in der Nach- weisung (Ausrechnung) und Feststellung des Rechts liegt? -- Diese Fragstellung würde nach dem älteren deutschen Staatsrechte nicht verständlich erschienen sein. Bei einem Staatszustande, der we- sentlich auf privatrechtlichen Verhältnissen ruht, in welchem die Staatsgewalt fast durchweg durch privatrechtliche Schranken ge- hemmt ist, ist die Verwaltung und Staatspflege das Untergeord- nete, Nebensächliche; der Staat kann sich keine der grossen und umfassenden Aufgaben zur Hebung und Förderung des Volks- lebens stellen, in denen er jetzt seine wichtigste Thätigkeit ent- wickelt. Justiz ist Alles! Von ihr wurde fast ausschliesslich die Regulirung der staatsbürgerlichen Verhältnisse erwartet. Wie hätte man es hier verstanden, wenn Jemand gesagt haben würde: die Justiz ist die beschränkteste und gemässigtste Einwirkung, welche der Staat äussern kann, -- da man den Gegensatz, nämlich die umfassendere Einwirkung der verwaltenden Thätigkeit, kaum in den ersten Anfängen und nur als eine Abart der "jurisdictio" kannte. Die völlige Umwandlung der Grundlagen der Staats- wirksamkeit und die damit verbundene vollständige Veränderung der Massverhältnisse der einzelnen Staatsfunctionen wird nirgends mehr als hier verkannt, wo man nur zu gern für die Behauptung einer allumfassenden Justizcompetenz in der Anführung des älte- ren Territorial- und Reichsrechts eine s. g. historische Begründung zu erbringen bemüht ist, vergessend, dass man seine Argumente einer ganz anderen Welt entlehnt. (Sehr lehrreich über diese Ent- wickelung, sowie über die Bedeutung der Administrativjustiz in den modernen Staaten ist die Relation E. Meier's über "Dareste la justice administrative en France 1862" in den Götting. gel. Anzeig. 1864 S. 921 flg.) Dritter Abschnitt. zelnen an.3 Auf solche Verhältnisse hat die Staatsgewaltan sich keinen unmittelbaren Einfluss; es steht ihr hier im Allgemeinen nicht zu, ordnend einzugreifen und dem Einzelnen das sittlich wünschenswerthe oder das zweck- mässige Handeln aufzunöthigen. Was von der Staats- gewalt erwartet und angenommen wird, ist ein Minimum 3 Dieser Gesichtspunkt wird von vielen Schriftstellern richtig
hervorgehoben, aber nur selten richtig verwerthet. Die ganze Frage ist so zu stellen: welches sind die Verhältnisse, bezüglich deren der Einzelne nicht genöthigt ist, einen anderen Einfluss der Staatsgewalt zu dulden, als denjenigen, welcher in der Nach- weisung (Ausrechnung) und Feststellung des Rechts liegt? — Diese Fragstellung würde nach dem älteren deutschen Staatsrechte nicht verständlich erschienen sein. Bei einem Staatszustande, der we- sentlich auf privatrechtlichen Verhältnissen ruht, in welchem die Staatsgewalt fast durchweg durch privatrechtliche Schranken ge- hemmt ist, ist die Verwaltung und Staatspflege das Untergeord- nete, Nebensächliche; der Staat kann sich keine der grossen und umfassenden Aufgaben zur Hebung und Förderung des Volks- lebens stellen, in denen er jetzt seine wichtigste Thätigkeit ent- wickelt. Justiz ist Alles! Von ihr wurde fast ausschliesslich die Regulirung der staatsbürgerlichen Verhältnisse erwartet. Wie hätte man es hier verstanden, wenn Jemand gesagt haben würde: die Justiz ist die beschränkteste und gemässigtste Einwirkung, welche der Staat äussern kann, — da man den Gegensatz, nämlich die umfassendere Einwirkung der verwaltenden Thätigkeit, kaum in den ersten Anfängen und nur als eine Abart der „jurisdictio“ kannte. Die völlige Umwandlung der Grundlagen der Staats- wirksamkeit und die damit verbundene vollständige Veränderung der Massverhältnisse der einzelnen Staatsfunctionen wird nirgends mehr als hier verkannt, wo man nur zu gern für die Behauptung einer allumfassenden Justizcompetenz in der Anführung des älte- ren Territorial- und Reichsrechts eine s. g. historische Begründung zu erbringen bemüht ist, vergessend, dass man seine Argumente einer ganz anderen Welt entlehnt. (Sehr lehrreich über diese Ent- wickelung, sowie über die Bedeutung der Administrativjustiz in den modernen Staaten ist die Relation E. Meier’s über „Dareste la justice administrative en France 1862“ in den Götting. gel. Anzeig. 1864 S. 921 flg.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0192" n="174"/><fw place="top" type="header">Dritter Abschnitt.</fw><lb/> zelnen an.<note place="foot" n="3">Dieser Gesichtspunkt wird von vielen Schriftstellern richtig<lb/> hervorgehoben, aber nur selten richtig verwerthet. Die ganze<lb/> Frage ist so zu stellen: welches sind die Verhältnisse, bezüglich<lb/> deren der Einzelne nicht genöthigt ist, einen anderen Einfluss der<lb/> Staatsgewalt zu dulden, als denjenigen, welcher in der Nach-<lb/> weisung (Ausrechnung) und Feststellung des Rechts liegt? — Diese<lb/> Fragstellung würde nach dem älteren deutschen Staatsrechte nicht<lb/> verständlich erschienen sein. Bei einem Staatszustande, der we-<lb/> sentlich auf privatrechtlichen Verhältnissen ruht, in welchem die<lb/> Staatsgewalt fast durchweg durch privatrechtliche Schranken ge-<lb/> hemmt ist, ist die Verwaltung und Staatspflege das Untergeord-<lb/> nete, Nebensächliche; der Staat kann sich keine der grossen und<lb/> umfassenden Aufgaben zur Hebung und Förderung des Volks-<lb/> lebens stellen, in denen er jetzt seine wichtigste Thätigkeit ent-<lb/> wickelt. Justiz ist Alles! Von ihr wurde fast ausschliesslich die<lb/> Regulirung der staatsbürgerlichen Verhältnisse erwartet. Wie<lb/> hätte man es hier verstanden, wenn Jemand gesagt haben würde:<lb/> die Justiz ist die beschränkteste und gemässigtste Einwirkung,<lb/> welche der Staat äussern kann, — da man den Gegensatz, nämlich<lb/> die umfassendere Einwirkung der verwaltenden Thätigkeit, kaum<lb/> in den ersten Anfängen und nur als eine Abart der „jurisdictio“<lb/> kannte. Die völlige Umwandlung der Grundlagen der Staats-<lb/> wirksamkeit und die damit verbundene vollständige Veränderung<lb/> der Massverhältnisse der einzelnen Staatsfunctionen wird nirgends<lb/> mehr als hier verkannt, wo man nur zu gern für die Behauptung<lb/> einer allumfassenden Justizcompetenz in der Anführung des älte-<lb/> ren Territorial- und Reichsrechts eine s. g. historische Begründung<lb/> zu erbringen bemüht ist, vergessend, dass man seine Argumente<lb/> einer ganz anderen Welt entlehnt. (Sehr lehrreich über diese Ent-<lb/> wickelung, sowie über die Bedeutung der Administrativjustiz in<lb/> den modernen Staaten ist die Relation E. <hi rendition="#g">Meier’s</hi> über „Dareste<lb/> la justice administrative en France 1862“ in den Götting. gel.<lb/> Anzeig. 1864 S. 921 flg.)</note> Auf solche Verhältnisse hat die Staatsgewalt<lb/> an sich keinen unmittelbaren Einfluss; es steht ihr hier<lb/> im Allgemeinen nicht zu, ordnend einzugreifen und dem<lb/> Einzelnen das sittlich wünschenswerthe oder das zweck-<lb/> mässige Handeln aufzunöthigen. Was von der Staats-<lb/> gewalt erwartet und angenommen wird, ist ein Minimum<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0192]
Dritter Abschnitt.
zelnen an. 3 Auf solche Verhältnisse hat die Staatsgewalt
an sich keinen unmittelbaren Einfluss; es steht ihr hier
im Allgemeinen nicht zu, ordnend einzugreifen und dem
Einzelnen das sittlich wünschenswerthe oder das zweck-
mässige Handeln aufzunöthigen. Was von der Staats-
gewalt erwartet und angenommen wird, ist ein Minimum
3 Dieser Gesichtspunkt wird von vielen Schriftstellern richtig
hervorgehoben, aber nur selten richtig verwerthet. Die ganze
Frage ist so zu stellen: welches sind die Verhältnisse, bezüglich
deren der Einzelne nicht genöthigt ist, einen anderen Einfluss der
Staatsgewalt zu dulden, als denjenigen, welcher in der Nach-
weisung (Ausrechnung) und Feststellung des Rechts liegt? — Diese
Fragstellung würde nach dem älteren deutschen Staatsrechte nicht
verständlich erschienen sein. Bei einem Staatszustande, der we-
sentlich auf privatrechtlichen Verhältnissen ruht, in welchem die
Staatsgewalt fast durchweg durch privatrechtliche Schranken ge-
hemmt ist, ist die Verwaltung und Staatspflege das Untergeord-
nete, Nebensächliche; der Staat kann sich keine der grossen und
umfassenden Aufgaben zur Hebung und Förderung des Volks-
lebens stellen, in denen er jetzt seine wichtigste Thätigkeit ent-
wickelt. Justiz ist Alles! Von ihr wurde fast ausschliesslich die
Regulirung der staatsbürgerlichen Verhältnisse erwartet. Wie
hätte man es hier verstanden, wenn Jemand gesagt haben würde:
die Justiz ist die beschränkteste und gemässigtste Einwirkung,
welche der Staat äussern kann, — da man den Gegensatz, nämlich
die umfassendere Einwirkung der verwaltenden Thätigkeit, kaum
in den ersten Anfängen und nur als eine Abart der „jurisdictio“
kannte. Die völlige Umwandlung der Grundlagen der Staats-
wirksamkeit und die damit verbundene vollständige Veränderung
der Massverhältnisse der einzelnen Staatsfunctionen wird nirgends
mehr als hier verkannt, wo man nur zu gern für die Behauptung
einer allumfassenden Justizcompetenz in der Anführung des älte-
ren Territorial- und Reichsrechts eine s. g. historische Begründung
zu erbringen bemüht ist, vergessend, dass man seine Argumente
einer ganz anderen Welt entlehnt. (Sehr lehrreich über diese Ent-
wickelung, sowie über die Bedeutung der Administrativjustiz in
den modernen Staaten ist die Relation E. Meier’s über „Dareste
la justice administrative en France 1862“ in den Götting. gel.
Anzeig. 1864 S. 921 flg.)
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