Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.Erster Abschnitt. gesetzgebende Gewalt ist sie insofern daran gebunden,als eine ohne dringenden Grund und ohne Vermögens- entschädigung des Betheiligten3 geschehene Aufhebung von erworbenen Rechten, welche noch jetzt ein nach all- gemeinem Massstabe anerkennungswerthes Interesse be- friedigen, -- zwar nicht als formell unwirksam, -- aber jederzeit als eine rechtsverletzende und sonach miss- bräuchliche4 Verwendung des Rechts der Gesetzgebung gelten wird. Und Niemand wird diess für bedeutungs- los halten, wenn er die Macht des sittlichen Urtheils erwägt, der sich auch die Staatsgewalt nicht zu ent- ziehen vermag. Wohlerworbene Rechte indessen, deren Inhalt das 3 Diese muss aber im Gesetze ausdrücklich festgesetzt sein. Richtig Stahl, Staats- u. Rechtslehre, II. S. 630. Eine weitere, als eine Vermögensentschädigung wird nicht erwartet werden können. 4 Als eine Rechtsverletzung. Nicht jeder Rechtsanspruch kann mit gerichtlicher Klage geltend gemacht werden, aber seine Verletzung kann sich durch eine Erschütterung des öffentlichen Vertrauens in einer weit fühlbareren und allgemeineren Weise rächen. Daher ist es schief, wenn Bähr, der Rechtsstaat 1864 S. 50., nur von einer "moralischen Schranke" spricht. 5 Richtig Christiansen S. 47. Nur irrt er, wenn er die Ein-
kleidung eines öffentlich rechtlichen Inhalts in die Form einer selbständigen Einzelberechtigung für einen Widerspruch hält, und ich darf mich dagegen wohl auf meine Schriften über öffentliche Rechte 1852 berufen. Erster Abschnitt. gesetzgebende Gewalt ist sie insofern daran gebunden,als eine ohne dringenden Grund und ohne Vermögens- entschädigung des Betheiligten3 geschehene Aufhebung von erworbenen Rechten, welche noch jetzt ein nach all- gemeinem Massstabe anerkennungswerthes Interesse be- friedigen, — zwar nicht als formell unwirksam, — aber jederzeit als eine rechtsverletzende und sonach miss- bräuchliche4 Verwendung des Rechts der Gesetzgebung gelten wird. Und Niemand wird diess für bedeutungs- los halten, wenn er die Macht des sittlichen Urtheils erwägt, der sich auch die Staatsgewalt nicht zu ent- ziehen vermag. Wohlerworbene Rechte indessen, deren Inhalt das 3 Diese muss aber im Gesetze ausdrücklich festgesetzt sein. Richtig Stahl, Staats- u. Rechtslehre, II. S. 630. Eine weitere, als eine Vermögensentschädigung wird nicht erwartet werden können. 4 Als eine Rechtsverletzung. Nicht jeder Rechtsanspruch kann mit gerichtlicher Klage geltend gemacht werden, aber seine Verletzung kann sich durch eine Erschütterung des öffentlichen Vertrauens in einer weit fühlbareren und allgemeineren Weise rächen. Daher ist es schief, wenn Bähr, der Rechtsstaat 1864 S. 50., nur von einer „moralischen Schranke“ spricht. 5 Richtig Christiansen S. 47. Nur irrt er, wenn er die Ein-
kleidung eines öffentlich rechtlichen Inhalts in die Form einer selbständigen Einzelberechtigung für einen Widerspruch hält, und ich darf mich dagegen wohl auf meine Schriften über öffentliche Rechte 1852 berufen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0056" n="38"/><fw place="top" type="header">Erster Abschnitt.</fw><lb/> gesetzgebende Gewalt ist sie insofern daran gebunden,<lb/> als eine ohne dringenden Grund und ohne Vermögens-<lb/> entschädigung des Betheiligten<note place="foot" n="3">Diese muss aber im Gesetze ausdrücklich festgesetzt sein.<lb/> Richtig <hi rendition="#g">Stahl</hi>, Staats- u. Rechtslehre, II. S. 630. Eine weitere, als<lb/> eine Vermögensentschädigung wird nicht erwartet werden können.</note> geschehene Aufhebung<lb/> von erworbenen Rechten, welche noch jetzt ein nach all-<lb/> gemeinem Massstabe anerkennungswerthes Interesse be-<lb/> friedigen, — zwar nicht als formell unwirksam, — aber<lb/> jederzeit als eine rechtsverletzende und sonach miss-<lb/> bräuchliche<note place="foot" n="4">Als eine <hi rendition="#g">Rechts</hi>verletzung. Nicht jeder Rechtsanspruch<lb/> kann mit gerichtlicher Klage geltend gemacht werden, aber seine<lb/> Verletzung kann sich durch eine Erschütterung des öffentlichen<lb/> Vertrauens in einer weit fühlbareren und allgemeineren Weise<lb/> rächen. Daher ist es schief, wenn <hi rendition="#g">Bähr</hi>, der Rechtsstaat 1864<lb/> S. 50., nur von einer „moralischen Schranke“ spricht.</note> Verwendung des Rechts der Gesetzgebung<lb/> gelten wird. Und Niemand wird diess für bedeutungs-<lb/> los halten, wenn er die Macht des sittlichen Urtheils<lb/> erwägt, der sich auch die Staatsgewalt nicht zu ent-<lb/> ziehen vermag.</p><lb/> <p>Wohlerworbene Rechte indessen, deren Inhalt das<lb/> Recht auf Ausübung einer organischen Function im<lb/> Staate ist, können gegenüber einer auf Aenderung der<lb/> Verfassung gerichteten Gesetzgebung auch nicht einmal<lb/> diese Widerstandskraft immer in Anspruch nehmen, da<lb/> sich ihr rechtlicher Bestand von ihrem Zusammenhange<lb/> mit der Verfassung gar nicht trennen lässt.<note place="foot" n="5">Richtig <hi rendition="#g">Christiansen</hi> S. 47. Nur irrt er, wenn er die Ein-<lb/> kleidung eines öffentlich rechtlichen Inhalts in die Form einer<lb/> selbständigen Einzelberechtigung für einen Widerspruch hält, und<lb/> ich darf mich dagegen wohl auf <hi rendition="#g">meine</hi> Schriften über öffentliche<lb/> Rechte 1852 berufen.</note></p> </div><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0056]
Erster Abschnitt.
gesetzgebende Gewalt ist sie insofern daran gebunden,
als eine ohne dringenden Grund und ohne Vermögens-
entschädigung des Betheiligten 3 geschehene Aufhebung
von erworbenen Rechten, welche noch jetzt ein nach all-
gemeinem Massstabe anerkennungswerthes Interesse be-
friedigen, — zwar nicht als formell unwirksam, — aber
jederzeit als eine rechtsverletzende und sonach miss-
bräuchliche 4 Verwendung des Rechts der Gesetzgebung
gelten wird. Und Niemand wird diess für bedeutungs-
los halten, wenn er die Macht des sittlichen Urtheils
erwägt, der sich auch die Staatsgewalt nicht zu ent-
ziehen vermag.
Wohlerworbene Rechte indessen, deren Inhalt das
Recht auf Ausübung einer organischen Function im
Staate ist, können gegenüber einer auf Aenderung der
Verfassung gerichteten Gesetzgebung auch nicht einmal
diese Widerstandskraft immer in Anspruch nehmen, da
sich ihr rechtlicher Bestand von ihrem Zusammenhange
mit der Verfassung gar nicht trennen lässt. 5
3 Diese muss aber im Gesetze ausdrücklich festgesetzt sein.
Richtig Stahl, Staats- u. Rechtslehre, II. S. 630. Eine weitere, als
eine Vermögensentschädigung wird nicht erwartet werden können.
4 Als eine Rechtsverletzung. Nicht jeder Rechtsanspruch
kann mit gerichtlicher Klage geltend gemacht werden, aber seine
Verletzung kann sich durch eine Erschütterung des öffentlichen
Vertrauens in einer weit fühlbareren und allgemeineren Weise
rächen. Daher ist es schief, wenn Bähr, der Rechtsstaat 1864
S. 50., nur von einer „moralischen Schranke“ spricht.
5 Richtig Christiansen S. 47. Nur irrt er, wenn er die Ein-
kleidung eines öffentlich rechtlichen Inhalts in die Form einer
selbständigen Einzelberechtigung für einen Widerspruch hält, und
ich darf mich dagegen wohl auf meine Schriften über öffentliche
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