Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.Zahl der Bevölkerung sehen will, so spricht doch die Natur der Sache und mannigfache Erfahrung gegen ihn. Doppelt gefährlich wird aber zu früher geschlechtlicher Umgang bei Völkern, bei denen es an Weibern fehlt. So heirathen die Mädchen der Tarumas in Guyana, weil es unter diesem Volk nur wenig Weiber gibt, schon vor der Pubertät (nach Schomburgk bei Waitz 1, 170). Mehr Männer als Weiber gab es noch in verschiedenen Orten in Amerika (z. B. Californien Waitz 1, 170 Anmerk., bei den Guanas Azara 232), in Polynesien (Tahiti, Markesas u. sonst) und in Kamtschatka, wo der Mangel an Weibern, wie wir sahen, vorzugsweise gross war. Durch diesen wurde denn wieder eine andere sehr wenig heilsame Einrichtung gefördert, dass in Neuholland junge Mädchen zunächst an alte Männer und erst nach deren Tode, wenn sie nun mittlerweile älter waren, an jüngere Leute verheirathet wurden (Nind im Journ. R. Geogr. Soc. 1, 38), eine Sitte, welche bei den Irokesen ebenfalls im Schwunge war: "Der junge Mann von 25 Jahren erhielt bei ihnen oft eine ältere Frau zugetheilt als er selbst war, der alte Wittwer dagegen wählte sich ein junges Mädchen" (Waitz 3, 103). Dass wir unter diesen Gründen die Polygamie und Polyandrie mit ihren gewiss schlimmen Folgen für die Bevölkerungszahl nicht besonders erwähnen, hat seinen Grund darin, dass wir diese beiden Einrichtungen, auch wenn sie noch so gesetzmässig sind, unter die Ausschweifungen rechnen und also, was von jenen gesagt ist, auch für diese gilt. Ebenso, was man für manche amerikanische Völker als Grund für die Unfruchtbarkeit angeführt hat, die geringe Neigung der Männer für das weibliche Geschlecht und ihre minder entwickelten Genitalien (Pöppig, Azara, Waitz 1, 171 u. s. w.) lassen wir auf sich beruhen, da dieser Umstand keineswegs allgemein und keineswegs in den daraus abgeleiteten Folgen sicher ist. Weit wichtiger sind noch einige psychische Gründe, die wir recht hervorheben möchten. Wie Gram und Kummer, Druck und Despotismus das äussere Leben zurückhalten und verkümmern lassen, so wirken sie natürlich auch auf die Fruchtbarkeit der Weiber ein, denn der Einfluss des geistigen Lebens auf jede Seite des leiblichen, so sehr man ihn auch anerkennt, kann kaum mächtig genug gedacht werden. Wo daher ein schwerer Druck auf der Bevölkerung liegt wie durch die Adelsherrschaft in Polynesien und hier namentlich auf den Fidschi- und Hawaiiinseln, da wird es auch leichter unfruchtbare Ehen geben. Und noch mehr, wenn der Druck der Herrscher zugleich das tiefste moralische Weh über die Unterworfenen bringt, wie das durch die furchtbaren Einwirkungen der Europäer fast überall geschehen ist. Auch ist zu bemerken, dass von diesen Gründen stets mehrere vereint, nie einer allein wirken; dass wir die verminderte Fruchtbarkeit also äusserlich veranlasst sehen, wodurch die Ansicht, sie sei Racencharakter, schon Zahl der Bevölkerung sehen will, so spricht doch die Natur der Sache und mannigfache Erfahrung gegen ihn. Doppelt gefährlich wird aber zu früher geschlechtlicher Umgang bei Völkern, bei denen es an Weibern fehlt. So heirathen die Mädchen der Tarumas in Guyana, weil es unter diesem Volk nur wenig Weiber gibt, schon vor der Pubertät (nach Schomburgk bei Waitz 1, 170). Mehr Männer als Weiber gab es noch in verschiedenen Orten in Amerika (z. B. Californien Waitz 1, 170 Anmerk., bei den Guanas Azara 232), in Polynesien (Tahiti, Markesas u. sonst) und in Kamtschatka, wo der Mangel an Weibern, wie wir sahen, vorzugsweise gross war. Durch diesen wurde denn wieder eine andere sehr wenig heilsame Einrichtung gefördert, dass in Neuholland junge Mädchen zunächst an alte Männer und erst nach deren Tode, wenn sie nun mittlerweile älter waren, an jüngere Leute verheirathet wurden (Nind im Journ. R. Geogr. Soc. 1, 38), eine Sitte, welche bei den Irokesen ebenfalls im Schwunge war: »Der junge Mann von 25 Jahren erhielt bei ihnen oft eine ältere Frau zugetheilt als er selbst war, der alte Wittwer dagegen wählte sich ein junges Mädchen« (Waitz 3, 103). Dass wir unter diesen Gründen die Polygamie und Polyandrie mit ihren gewiss schlimmen Folgen für die Bevölkerungszahl nicht besonders erwähnen, hat seinen Grund darin, dass wir diese beiden Einrichtungen, auch wenn sie noch so gesetzmässig sind, unter die Ausschweifungen rechnen und also, was von jenen gesagt ist, auch für diese gilt. Ebenso, was man für manche amerikanische Völker als Grund für die Unfruchtbarkeit angeführt hat, die geringe Neigung der Männer für das weibliche Geschlecht und ihre minder entwickelten Genitalien (Pöppig, Azara, Waitz 1, 171 u. s. w.) lassen wir auf sich beruhen, da dieser Umstand keineswegs allgemein und keineswegs in den daraus abgeleiteten Folgen sicher ist. Weit wichtiger sind noch einige psychische Gründe, die wir recht hervorheben möchten. Wie Gram und Kummer, Druck und Despotismus das äussere Leben zurückhalten und verkümmern lassen, so wirken sie natürlich auch auf die Fruchtbarkeit der Weiber ein, denn der Einfluss des geistigen Lebens auf jede Seite des leiblichen, so sehr man ihn auch anerkennt, kann kaum mächtig genug gedacht werden. Wo daher ein schwerer Druck auf der Bevölkerung liegt wie durch die Adelsherrschaft in Polynesien und hier namentlich auf den Fidschi- und Hawaiiinseln, da wird es auch leichter unfruchtbare Ehen geben. Und noch mehr, wenn der Druck der Herrscher zugleich das tiefste moralische Weh über die Unterworfenen bringt, wie das durch die furchtbaren Einwirkungen der Europäer fast überall geschehen ist. Auch ist zu bemerken, dass von diesen Gründen stets mehrere vereint, nie einer allein wirken; dass wir die verminderte Fruchtbarkeit also äusserlich veranlasst sehen, wodurch die Ansicht, sie sei Raçencharakter, schon <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0061"/> Zahl der Bevölkerung sehen will, so spricht doch die Natur der Sache und mannigfache Erfahrung gegen ihn. Doppelt gefährlich wird aber zu früher geschlechtlicher Umgang bei Völkern, bei denen es an Weibern fehlt. So heirathen die Mädchen der Tarumas in Guyana, weil es unter diesem Volk nur wenig Weiber gibt, schon vor der Pubertät (nach Schomburgk bei Waitz 1, 170). Mehr Männer als Weiber gab es noch in verschiedenen Orten in Amerika (z. B. Californien Waitz 1, 170 Anmerk., bei den Guanas Azara 232), in Polynesien (Tahiti, Markesas u. sonst) und in Kamtschatka, wo der Mangel an Weibern, wie wir sahen, vorzugsweise gross war. Durch diesen wurde denn wieder eine andere sehr wenig heilsame Einrichtung gefördert, dass in Neuholland junge Mädchen zunächst an alte Männer und erst nach deren Tode, wenn sie nun mittlerweile älter waren, an jüngere Leute verheirathet wurden (Nind im Journ. R. Geogr. Soc. 1, 38), eine Sitte, welche bei den Irokesen ebenfalls im Schwunge war: »Der junge Mann von 25 Jahren erhielt bei ihnen oft eine ältere Frau zugetheilt als er selbst war, der alte Wittwer dagegen wählte sich ein junges Mädchen« (Waitz 3, 103).</p> <p>Dass wir unter diesen Gründen die Polygamie und Polyandrie mit ihren gewiss schlimmen Folgen für die Bevölkerungszahl nicht besonders erwähnen, hat seinen Grund darin, dass wir diese beiden Einrichtungen, auch wenn sie noch so gesetzmässig sind, unter die Ausschweifungen rechnen und also, was von jenen gesagt ist, auch für diese gilt. Ebenso, was man für manche amerikanische Völker als Grund für die Unfruchtbarkeit angeführt hat, die geringe Neigung der Männer für das weibliche Geschlecht und ihre minder entwickelten Genitalien (Pöppig, Azara, Waitz 1, 171 u. s. w.) lassen wir auf sich beruhen, da dieser Umstand keineswegs allgemein und keineswegs in den daraus abgeleiteten Folgen sicher ist.</p> <p>Weit wichtiger sind noch einige psychische Gründe, die wir recht hervorheben möchten. Wie Gram und Kummer, Druck und Despotismus das äussere Leben zurückhalten und verkümmern lassen, so wirken sie natürlich auch auf die Fruchtbarkeit der Weiber ein, denn der Einfluss des geistigen Lebens auf jede Seite des leiblichen, so sehr man ihn auch anerkennt, kann kaum mächtig genug gedacht werden. Wo daher ein schwerer Druck auf der Bevölkerung liegt wie durch die Adelsherrschaft in Polynesien und hier namentlich auf den Fidschi- und Hawaiiinseln, da wird es auch leichter unfruchtbare Ehen geben. Und noch mehr, wenn der Druck der Herrscher zugleich das tiefste moralische Weh über die Unterworfenen bringt, wie das durch die furchtbaren Einwirkungen der Europäer fast überall geschehen ist. Auch ist zu bemerken, dass von diesen Gründen stets mehrere vereint, nie einer allein wirken; dass wir die verminderte Fruchtbarkeit also äusserlich veranlasst sehen, wodurch die Ansicht, sie sei Raçencharakter, schon </p> </div> </body> </text> </TEI> [0061]
Zahl der Bevölkerung sehen will, so spricht doch die Natur der Sache und mannigfache Erfahrung gegen ihn. Doppelt gefährlich wird aber zu früher geschlechtlicher Umgang bei Völkern, bei denen es an Weibern fehlt. So heirathen die Mädchen der Tarumas in Guyana, weil es unter diesem Volk nur wenig Weiber gibt, schon vor der Pubertät (nach Schomburgk bei Waitz 1, 170). Mehr Männer als Weiber gab es noch in verschiedenen Orten in Amerika (z. B. Californien Waitz 1, 170 Anmerk., bei den Guanas Azara 232), in Polynesien (Tahiti, Markesas u. sonst) und in Kamtschatka, wo der Mangel an Weibern, wie wir sahen, vorzugsweise gross war. Durch diesen wurde denn wieder eine andere sehr wenig heilsame Einrichtung gefördert, dass in Neuholland junge Mädchen zunächst an alte Männer und erst nach deren Tode, wenn sie nun mittlerweile älter waren, an jüngere Leute verheirathet wurden (Nind im Journ. R. Geogr. Soc. 1, 38), eine Sitte, welche bei den Irokesen ebenfalls im Schwunge war: »Der junge Mann von 25 Jahren erhielt bei ihnen oft eine ältere Frau zugetheilt als er selbst war, der alte Wittwer dagegen wählte sich ein junges Mädchen« (Waitz 3, 103).
Dass wir unter diesen Gründen die Polygamie und Polyandrie mit ihren gewiss schlimmen Folgen für die Bevölkerungszahl nicht besonders erwähnen, hat seinen Grund darin, dass wir diese beiden Einrichtungen, auch wenn sie noch so gesetzmässig sind, unter die Ausschweifungen rechnen und also, was von jenen gesagt ist, auch für diese gilt. Ebenso, was man für manche amerikanische Völker als Grund für die Unfruchtbarkeit angeführt hat, die geringe Neigung der Männer für das weibliche Geschlecht und ihre minder entwickelten Genitalien (Pöppig, Azara, Waitz 1, 171 u. s. w.) lassen wir auf sich beruhen, da dieser Umstand keineswegs allgemein und keineswegs in den daraus abgeleiteten Folgen sicher ist.
Weit wichtiger sind noch einige psychische Gründe, die wir recht hervorheben möchten. Wie Gram und Kummer, Druck und Despotismus das äussere Leben zurückhalten und verkümmern lassen, so wirken sie natürlich auch auf die Fruchtbarkeit der Weiber ein, denn der Einfluss des geistigen Lebens auf jede Seite des leiblichen, so sehr man ihn auch anerkennt, kann kaum mächtig genug gedacht werden. Wo daher ein schwerer Druck auf der Bevölkerung liegt wie durch die Adelsherrschaft in Polynesien und hier namentlich auf den Fidschi- und Hawaiiinseln, da wird es auch leichter unfruchtbare Ehen geben. Und noch mehr, wenn der Druck der Herrscher zugleich das tiefste moralische Weh über die Unterworfenen bringt, wie das durch die furchtbaren Einwirkungen der Europäer fast überall geschehen ist. Auch ist zu bemerken, dass von diesen Gründen stets mehrere vereint, nie einer allein wirken; dass wir die verminderte Fruchtbarkeit also äusserlich veranlasst sehen, wodurch die Ansicht, sie sei Raçencharakter, schon
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