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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.

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zweyter Aufzug.
Ugolino. (mit einem Seußer) Jch denke, mir ist nicht viel
besser! (sieht schüchtern nach Gaddo hin) Anselmo, singe mir das
Lied in die Laute, das deine Mutter dich jüngst an ihrem letzten
Geburtstage lehrte.
Anselmo. (singt)
Stillen Geists will ich dir flehen!
Weisheit, blick aus deinen Höhen,
Blicke sanft auf mich herab!
Leite mich im finstern Thale,
Quell des Lichts! mit deinem Strahle!
Sende mir dein Licht herab!
Um und um von Nacht umflossen,
Ach! von Schauern übergossen,
Wall ich bebend an mein Grab!
Leite mich im finstern Thale,
Quell des Lichts! mit deinem Strahle!
Blicke mild auf mich herab!
Ugolino. Jch danke dir, mein Sohn. Jch wollte dich
bitten, es noch einmal zu singen: aber ich bin diesmal zu weich.
Geht auf einige Augenblicke heraus, meine Kinder. (er weint heftig)
Doch nein, bleibt. Diese Silbertropfen waren willkommen,
ihr Geliebten. Es giebt Augenblicke, da die Natur in einer Art
von tauber Fühllosigkeit hinsinkt: es ist nicht Erkrankung; es ist
nicht Schmerz: sonst empfände sie; Beklemmung ist Traurigkeit,
und ich wollte nicht, daß ihr mich für traurig hieltet. Schwere
ist das Wort, ihr Kinder: ein mittler Zustand zwischen Freude
ohne Namen, und -- Ernst ohne Namen. Wie nun? Die Wolke
ist noch einmal reif. (weint wieder) Weint nicht, ihr sanften mit-
fühlenden Herzen, weint nicht! Die Natur bedarf einer Er-
quickung. Weint nicht! Jch hoffe dieser herabrollende Tau ist der
Bothe
D 2
zweyter Aufzug.
Ugolino. (mit einem Seuſzer) Jch denke, mir iſt nicht viel
beſſer! (ſieht ſchuͤchtern nach Gaddo hin) Anſelmo, ſinge mir das
Lied in die Laute, das deine Mutter dich juͤngſt an ihrem letzten
Geburtstage lehrte.
Anſelmo. (ſingt)
Stillen Geiſts will ich dir flehen!
Weisheit, blick aus deinen Hoͤhen,
Blicke ſanft auf mich herab!
Leite mich im finſtern Thale,
Quell des Lichts! mit deinem Strahle!
Sende mir dein Licht herab!
Um und um von Nacht umfloſſen,
Ach! von Schauern uͤbergoſſen,
Wall ich bebend an mein Grab!
Leite mich im finſtern Thale,
Quell des Lichts! mit deinem Strahle!
Blicke mild auf mich herab!
Ugolino. Jch danke dir, mein Sohn. Jch wollte dich
bitten, es noch einmal zu ſingen: aber ich bin diesmal zu weich.
Geht auf einige Augenblicke heraus, meine Kinder. (er weint heftig)
Doch nein, bleibt. Dieſe Silbertropfen waren willkommen,
ihr Geliebten. Es giebt Augenblicke, da die Natur in einer Art
von tauber Fuͤhlloſigkeit hinſinkt: es iſt nicht Erkrankung; es iſt
nicht Schmerz: ſonſt empfaͤnde ſie; Beklemmung iſt Traurigkeit,
und ich wollte nicht, daß ihr mich fuͤr traurig hieltet. Schwere
iſt das Wort, ihr Kinder: ein mittler Zuſtand zwiſchen Freude
ohne Namen, und — Ernſt ohne Namen. Wie nun? Die Wolke
iſt noch einmal reif. (weint wieder) Weint nicht, ihr ſanften mit-
fuͤhlenden Herzen, weint nicht! Die Natur bedarf einer Er-
quickung. Weint nicht! Jch hoffe dieſer herabrollende Tau iſt der
Bothe
D 2
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[27/0033] zweyter Aufzug. Ugolino. (mit einem Seuſzer) Jch denke, mir iſt nicht viel beſſer! (ſieht ſchuͤchtern nach Gaddo hin) Anſelmo, ſinge mir das Lied in die Laute, das deine Mutter dich juͤngſt an ihrem letzten Geburtstage lehrte. Anſelmo. (ſingt) Stillen Geiſts will ich dir flehen! Weisheit, blick aus deinen Hoͤhen, Blicke ſanft auf mich herab! Leite mich im finſtern Thale, Quell des Lichts! mit deinem Strahle! Sende mir dein Licht herab! Um und um von Nacht umfloſſen, Ach! von Schauern uͤbergoſſen, Wall ich bebend an mein Grab! Leite mich im finſtern Thale, Quell des Lichts! mit deinem Strahle! Blicke mild auf mich herab! Ugolino. Jch danke dir, mein Sohn. Jch wollte dich bitten, es noch einmal zu ſingen: aber ich bin diesmal zu weich. Geht auf einige Augenblicke heraus, meine Kinder. (er weint heftig) Doch nein, bleibt. Dieſe Silbertropfen waren willkommen, ihr Geliebten. Es giebt Augenblicke, da die Natur in einer Art von tauber Fuͤhlloſigkeit hinſinkt: es iſt nicht Erkrankung; es iſt nicht Schmerz: ſonſt empfaͤnde ſie; Beklemmung iſt Traurigkeit, und ich wollte nicht, daß ihr mich fuͤr traurig hieltet. Schwere iſt das Wort, ihr Kinder: ein mittler Zuſtand zwiſchen Freude ohne Namen, und — Ernſt ohne Namen. Wie nun? Die Wolke iſt noch einmal reif. (weint wieder) Weint nicht, ihr ſanften mit- fuͤhlenden Herzen, weint nicht! Die Natur bedarf einer Er- quickung. Weint nicht! Jch hoffe dieſer herabrollende Tau iſt der Bothe D 2

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Zitationshilfe: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstenberg_ugolino_1768/33>, abgerufen am 21.11.2024.