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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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1. Buch. 1. Tit.
nicht bey den Worten stehen bleiben, sondern auf die
Absicht der Contrahenten sehen solle 60). Die zweite
Stelle enthält ebenfals eine Erklärungsregel für den
Richter, und der Sinn ist: der Richter solle nicht nach
den Worten, sondern nach der Absicht und dem Willen
der Gesetze und Verordnungen entscheiden. Die lezte
Stelle endlich ist aus L. 7. pr. D. de restit. in integr.
zu erklären, denn beyde sind aus lib. 3. Digestor. mar-
celli
genommen. Aus dieser Verbindung sieht man,
daß von dem Fall die Rede war, wo Jemand, welcher
im Gericht, seiner Sache wegen die Nothdurft zu beob,
achten, war aufgerufen worden, sich nicht gemeldet,
und daher wegen Versäumnis sein Recht verlohren hat-
te. Er hatte den Aufruf nicht gehört, und nach den
Umständen, ohne sein Verschulden, nicht hören können,
und suchte daher die Wiederherstellung in den vorigen
Stand. Nichts ist billiger, als daß hier der Par-
they, welche ohne ihr Verschulden um ihr Recht gekom-
men, geholfen werde; daher auch Kr. Antonin ihr
solche durch sein Rescript angedeihen lässet 61). Hier
ist also eben so wenig, wie in den vorhergehender Ge-
sezstellen, zu befinden, daß ein Richter, als solcher,
sich herausnehmen dürfe, Gesetze, die er für unbillig
hält, nicht zu befolgen, vielmehr ergiebt sich aus den
angeführten sowohl, als andern Stellen des römischen
Gesezbuchs, daß die dem Richter von den Gesetzen selbst
empfohlene Billigkeit darinn bestehe:

1) Daß er nie bey den Worten des Gesetzes stehen
bleibe, sondern überall auf die Absicht sehe, wel-
che
60) cuiacius in Commentar. ad Pauli Quaest.
und giphanius in Commentar. ad tit. de Reg.
Iur
. ad L. 90. n. 3
.
61) Iac. gothofredus Comm. in tit. Dig. de R. I. p. 730.
Pet
. paber Comm. ad tit. Dig. de Reg. Iur. h. l
.

1. Buch. 1. Tit.
nicht bey den Worten ſtehen bleiben, ſondern auf die
Abſicht der Contrahenten ſehen ſolle 60). Die zweite
Stelle enthaͤlt ebenfals eine Erklaͤrungsregel fuͤr den
Richter, und der Sinn iſt: der Richter ſolle nicht nach
den Worten, ſondern nach der Abſicht und dem Willen
der Geſetze und Verordnungen entſcheiden. Die lezte
Stelle endlich iſt aus L. 7. pr. D. de reſtit. in integr.
zu erklaͤren, denn beyde ſind aus lib. 3. Digeſtor. mar-
celli
genommen. Aus dieſer Verbindung ſieht man,
daß von dem Fall die Rede war, wo Jemand, welcher
im Gericht, ſeiner Sache wegen die Nothdurft zu beob,
achten, war aufgerufen worden, ſich nicht gemeldet,
und daher wegen Verſaͤumnis ſein Recht verlohren hat-
te. Er hatte den Aufruf nicht gehoͤrt, und nach den
Umſtaͤnden, ohne ſein Verſchulden, nicht hoͤren koͤnnen,
und ſuchte daher die Wiederherſtellung in den vorigen
Stand. Nichts iſt billiger, als daß hier der Par-
they, welche ohne ihr Verſchulden um ihr Recht gekom-
men, geholfen werde; daher auch Kr. Antonin ihr
ſolche durch ſein Reſcript angedeihen laͤſſet 61). Hier
iſt alſo eben ſo wenig, wie in den vorhergehender Ge-
ſezſtellen, zu befinden, daß ein Richter, als ſolcher,
ſich herausnehmen duͤrfe, Geſetze, die er fuͤr unbillig
haͤlt, nicht zu befolgen, vielmehr ergiebt ſich aus den
angefuͤhrten ſowohl, als andern Stellen des roͤmiſchen
Geſezbuchs, daß die dem Richter von den Geſetzen ſelbſt
empfohlene Billigkeit darinn beſtehe:

1) Daß er nie bey den Worten des Geſetzes ſtehen
bleibe, ſondern uͤberall auf die Abſicht ſehe, wel-
che
60) cuiacius in Commentar. ad Pauli Quaeſt.
und giphanius in Commentar. ad tit. de Reg.
Iur
. ad L. 90. n. 3
.
61) Iac. gothofredus Comm. in tit. Dig. de R. I. p. 730.
Pet
. paber Comm. ad tit. Dig. de Reg. Iur. h. l
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[210/0230] 1. Buch. 1. Tit. nicht bey den Worten ſtehen bleiben, ſondern auf die Abſicht der Contrahenten ſehen ſolle 60). Die zweite Stelle enthaͤlt ebenfals eine Erklaͤrungsregel fuͤr den Richter, und der Sinn iſt: der Richter ſolle nicht nach den Worten, ſondern nach der Abſicht und dem Willen der Geſetze und Verordnungen entſcheiden. Die lezte Stelle endlich iſt aus L. 7. pr. D. de reſtit. in integr. zu erklaͤren, denn beyde ſind aus lib. 3. Digeſtor. mar- celli genommen. Aus dieſer Verbindung ſieht man, daß von dem Fall die Rede war, wo Jemand, welcher im Gericht, ſeiner Sache wegen die Nothdurft zu beob, achten, war aufgerufen worden, ſich nicht gemeldet, und daher wegen Verſaͤumnis ſein Recht verlohren hat- te. Er hatte den Aufruf nicht gehoͤrt, und nach den Umſtaͤnden, ohne ſein Verſchulden, nicht hoͤren koͤnnen, und ſuchte daher die Wiederherſtellung in den vorigen Stand. Nichts iſt billiger, als daß hier der Par- they, welche ohne ihr Verſchulden um ihr Recht gekom- men, geholfen werde; daher auch Kr. Antonin ihr ſolche durch ſein Reſcript angedeihen laͤſſet 61). Hier iſt alſo eben ſo wenig, wie in den vorhergehender Ge- ſezſtellen, zu befinden, daß ein Richter, als ſolcher, ſich herausnehmen duͤrfe, Geſetze, die er fuͤr unbillig haͤlt, nicht zu befolgen, vielmehr ergiebt ſich aus den angefuͤhrten ſowohl, als andern Stellen des roͤmiſchen Geſezbuchs, daß die dem Richter von den Geſetzen ſelbſt empfohlene Billigkeit darinn beſtehe: 1) Daß er nie bey den Worten des Geſetzes ſtehen bleibe, ſondern uͤberall auf die Abſicht ſehe, wel- che 60) cuiacius in Commentar. ad Pauli Quaeſt. und giphanius in Commentar. ad tit. de Reg. Iur. ad L. 90. n. 3. 61) Iac. gothofredus Comm. in tit. Dig. de R. I. p. 730. Pet. paber Comm. ad tit. Dig. de Reg. Iur. h. l.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/230>, abgerufen am 17.05.2024.