Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

De divisione rerum et qualitate.
hat 36). Die erstere ist: Wie haben die Gesetze
ihre Wirkung auf den Besitz, als eine facti-
sche Sache äussern können
? Die zweyte: Aus
welchen politischen Gründen haben die
Rechtsgelehrten so manche Eigenschaften
des Rechts dem Besitze beigelegt
?

Soviel die erste Frage anbetrift, so scheint es
zwar schwer zu begreifen zu seyn, wie die Gesetze die Er-
fordernisse eines Besitzes, da, wo dieselben fehlen, ha-
ben ergänzen, oder dieselben, da wo sie doch wirklich
vorhanden sind, haben für unkräftig erklären können,
gleichsam als ob sie gar nicht vorhanden wären, da doch
bey dem Besitz eigentlich alles auf das Possessionsfactum
ankommt, und die Rechtsgelehrten selbst bey Entschei-
dung mancher den Besitz betreffender Rechtsfragen zum
Grundsatz angenommen, quod facti causae infectae
fieri
nulla constitutione possint,
wie Tryphonin sagt 37),
oder, wie sich Paulus 38) in einem solchen Fall aus-
druckt, quoniam res facti infirmari lure Civili non
potest.
Allein hierauf ist zweyerley zu antworten. Erst-
lich verstehet es sich freylich von selbst, daß kein Gesetz
die Kraft habe, ein Possessionsfaktum wirklich ungeschehen
zu machen, oder im Gegentheil ein solches zu erschaffen,
wo dergleichen überall in rerum natura nicht vorhanden
ist. Allein daraus folgt noch nicht, daß die bürger-
lichen Gesetze auch nicht quoad effectus civiles jemand
für den Besitzer erklären könnten, der es eigentlich nicht
ist, oder demjenigen, welcher wirklich in Besitz ist, die rechtli-
chen Wirkungen des Besitzes nicht entziehen, und den Besitz

für
36) Select. Observat. de natura possess. P. I. Cap. 6.
37) L. 12. §. 2. D. de Captivis et postlim. revers.
38) L. 1. §. 4. D. de aequir. possess.

De diviſione rerum et qualitate.
hat 36). Die erſtere iſt: Wie haben die Geſetze
ihre Wirkung auf den Beſitz, als eine facti-
ſche Sache aͤuſſern koͤnnen
? Die zweyte: Aus
welchen politiſchen Gruͤnden haben die
Rechtsgelehrten ſo manche Eigenſchaften
des Rechts dem Beſitze beigelegt
?

Soviel die erſte Frage anbetrift, ſo ſcheint es
zwar ſchwer zu begreifen zu ſeyn, wie die Geſetze die Er-
forderniſſe eines Beſitzes, da, wo dieſelben fehlen, ha-
ben ergaͤnzen, oder dieſelben, da wo ſie doch wirklich
vorhanden ſind, haben fuͤr unkraͤftig erklaͤren koͤnnen,
gleichſam als ob ſie gar nicht vorhanden waͤren, da doch
bey dem Beſitz eigentlich alles auf das Poſſeſſionsfactum
ankommt, und die Rechtsgelehrten ſelbſt bey Entſchei-
dung mancher den Beſitz betreffender Rechtsfragen zum
Grundſatz angenommen, quod facti cauſae infectae
fieri
nulla conſtitutione poſſint,
wie Tryphonin ſagt 37),
oder, wie ſich Paulus 38) in einem ſolchen Fall aus-
druckt, quoniam res facti infirmari lure Civili non
poteſt.
Allein hierauf iſt zweyerley zu antworten. Erſt-
lich verſtehet es ſich freylich von ſelbſt, daß kein Geſetz
die Kraft habe, ein Poſſeſſionsfaktum wirklich ungeſchehen
zu machen, oder im Gegentheil ein ſolches zu erſchaffen,
wo dergleichen uͤberall in rerum natura nicht vorhanden
iſt. Allein daraus folgt noch nicht, daß die buͤrger-
lichen Geſetze auch nicht quoad effectus civiles jemand
fuͤr den Beſitzer erklaͤren koͤnnten, der es eigentlich nicht
iſt, oder demjenigen, welcher wirklich in Beſitz iſt, die rechtli-
chen Wirkungen des Beſitzes nicht entziehen, und den Beſitz

fuͤr
36) Select. Obſervat. de natura poſſeſſ. P. I. Cap. 6.
37) L. 12. §. 2. D. de Captivis et poſtlim. reverſ.
38) L. 1. §. 4. D. de aequir. poſſeſſ.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0549" n="535"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">De divi&#x017F;ione rerum et qualitate.</hi></fw><lb/>
hat <note place="foot" n="36)"><hi rendition="#aq">Select. Ob&#x017F;ervat. de natura po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;. P. I. Cap.</hi> 6.</note>. Die er&#x017F;tere i&#x017F;t: <hi rendition="#g">Wie haben die Ge&#x017F;etze<lb/>
ihre Wirkung auf den Be&#x017F;itz, als eine facti-<lb/>
&#x017F;che Sache a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern ko&#x0364;nnen</hi>? Die zweyte: <hi rendition="#g">Aus<lb/>
welchen politi&#x017F;chen Gru&#x0364;nden haben die<lb/>
Rechtsgelehrten &#x017F;o manche Eigen&#x017F;chaften<lb/>
des Rechts dem Be&#x017F;itze beigelegt</hi>?</p><lb/>
          <p>Soviel die er&#x017F;te Frage anbetrift, &#x017F;o &#x017F;cheint es<lb/>
zwar &#x017F;chwer zu begreifen zu &#x017F;eyn, wie die Ge&#x017F;etze die Er-<lb/>
forderni&#x017F;&#x017F;e eines Be&#x017F;itzes, da, wo die&#x017F;elben fehlen, ha-<lb/>
ben erga&#x0364;nzen, oder die&#x017F;elben, da wo &#x017F;ie doch wirklich<lb/>
vorhanden &#x017F;ind, haben fu&#x0364;r unkra&#x0364;ftig erkla&#x0364;ren ko&#x0364;nnen,<lb/>
gleich&#x017F;am als ob &#x017F;ie gar nicht vorhanden wa&#x0364;ren, da doch<lb/>
bey dem Be&#x017F;itz eigentlich alles auf das Po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;ionsfactum<lb/>
ankommt, und die Rechtsgelehrten &#x017F;elb&#x017F;t bey Ent&#x017F;chei-<lb/>
dung mancher den Be&#x017F;itz betreffender Rechtsfragen zum<lb/>
Grund&#x017F;atz angenommen, <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">quod</hi><hi rendition="#k">facti</hi><hi rendition="#i">cau&#x017F;ae</hi><hi rendition="#k">infectae<lb/>
fieri</hi><hi rendition="#i">nulla con&#x017F;titutione po&#x017F;&#x017F;int</hi>,</hi> wie <hi rendition="#fr">Tryphonin</hi> &#x017F;agt <note place="foot" n="37)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 12. §. 2. <hi rendition="#i">D. de Captivis et po&#x017F;tlim. rever&#x017F;.</hi></hi></note>,<lb/>
oder, wie &#x017F;ich <hi rendition="#fr">Paulus</hi> <note place="foot" n="38)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 1. §. 4. <hi rendition="#i">D. de aequir. po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;.</hi></hi></note> in einem &#x017F;olchen Fall aus-<lb/>
druckt, <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">quoniam</hi><hi rendition="#k">res facti</hi><hi rendition="#i">infirmari lure Civili non<lb/>
pote&#x017F;t.</hi></hi> Allein hierauf i&#x017F;t zweyerley zu antworten. Er&#x017F;t-<lb/>
lich ver&#x017F;tehet es &#x017F;ich freylich von &#x017F;elb&#x017F;t, daß kein Ge&#x017F;etz<lb/>
die Kraft habe, ein Po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;ionsfaktum wirklich unge&#x017F;chehen<lb/>
zu machen, oder im Gegentheil ein &#x017F;olches zu er&#x017F;chaffen,<lb/>
wo dergleichen u&#x0364;berall <hi rendition="#aq">in rerum natura</hi> nicht vorhanden<lb/>
i&#x017F;t. Allein daraus folgt noch nicht, daß die bu&#x0364;rger-<lb/>
lichen Ge&#x017F;etze auch nicht <hi rendition="#aq">quoad effectus civiles</hi> jemand<lb/>
fu&#x0364;r den Be&#x017F;itzer erkla&#x0364;ren ko&#x0364;nnten, der es eigentlich nicht<lb/>
i&#x017F;t, oder demjenigen, welcher wirklich in Be&#x017F;itz i&#x017F;t, die rechtli-<lb/>
chen Wirkungen des Be&#x017F;itzes nicht entziehen, und den Be&#x017F;itz<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fu&#x0364;r</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[535/0549] De diviſione rerum et qualitate. hat 36). Die erſtere iſt: Wie haben die Geſetze ihre Wirkung auf den Beſitz, als eine facti- ſche Sache aͤuſſern koͤnnen? Die zweyte: Aus welchen politiſchen Gruͤnden haben die Rechtsgelehrten ſo manche Eigenſchaften des Rechts dem Beſitze beigelegt? Soviel die erſte Frage anbetrift, ſo ſcheint es zwar ſchwer zu begreifen zu ſeyn, wie die Geſetze die Er- forderniſſe eines Beſitzes, da, wo dieſelben fehlen, ha- ben ergaͤnzen, oder dieſelben, da wo ſie doch wirklich vorhanden ſind, haben fuͤr unkraͤftig erklaͤren koͤnnen, gleichſam als ob ſie gar nicht vorhanden waͤren, da doch bey dem Beſitz eigentlich alles auf das Poſſeſſionsfactum ankommt, und die Rechtsgelehrten ſelbſt bey Entſchei- dung mancher den Beſitz betreffender Rechtsfragen zum Grundſatz angenommen, quod facti cauſae infectae fieri nulla conſtitutione poſſint, wie Tryphonin ſagt 37), oder, wie ſich Paulus 38) in einem ſolchen Fall aus- druckt, quoniam res facti infirmari lure Civili non poteſt. Allein hierauf iſt zweyerley zu antworten. Erſt- lich verſtehet es ſich freylich von ſelbſt, daß kein Geſetz die Kraft habe, ein Poſſeſſionsfaktum wirklich ungeſchehen zu machen, oder im Gegentheil ein ſolches zu erſchaffen, wo dergleichen uͤberall in rerum natura nicht vorhanden iſt. Allein daraus folgt noch nicht, daß die buͤrger- lichen Geſetze auch nicht quoad effectus civiles jemand fuͤr den Beſitzer erklaͤren koͤnnten, der es eigentlich nicht iſt, oder demjenigen, welcher wirklich in Beſitz iſt, die rechtli- chen Wirkungen des Beſitzes nicht entziehen, und den Beſitz fuͤr 36) Select. Obſervat. de natura poſſeſſ. P. I. Cap. 6. 37) L. 12. §. 2. D. de Captivis et poſtlim. reverſ. 38) L. 1. §. 4. D. de aequir. poſſeſſ.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791/549
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791/549>, abgerufen am 23.11.2024.