Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Claudine hatte die Farbe gewechselt, während er sprach, aber mit fester Stimme gab sie zur Antwort, und dabei flog ein rascher, vorwurfsvoller Blick zum Francois hinüber: Nein, Cadet Caduchon, der Gedanke ist mir nie gekommen. "Ehre Vater und Mutter", heißt es im Katechismus, und "reich zu reich und arm zu arm" ist von jeher der Brauch gewesen . . . dagegen kann ich mich nicht auflehnen. Ja freilich, wenn das deine feste Meinung ist! rief der Caduchon, und es war ein Gemisch von Hohn und Zorn in seinem Ton und in seiner Miene. Du willst doch nicht fortgehen? fragte er, als er sah, daß Claudine ihr Capuchon zusammenzog. Ist nicht daran zu denken . . . setzt euch mal da an den Tisch; ich will euch eine Geschichte erzählen, die euch beide angeht. Du, Francois, wirst so gut sein, nicht dreinzureden. Der Caduchon hatte die letzten Worte mit so großer Ernsthaftigkeit gesagt, daß Claudine und Francois unwillkürlich gehorchten, indeß der Alte seine kurze, schwarzgerauchte Pfeife vom Kaminsims herunterlangte und in Brand steckte, worauf er sich neben Claudine setzte. Ich muß euch noch ein paar Worte von mir selber sagen, fing er an; lange werde ich mich nicht dabei aufhalten. Daß ich von hier gebürtig bin, wißt ihr wohl. Meine Eltern waren arm, hatten das Nest -- dies Prachtgebäude war's -- voll Kinder, und so hieß Claudine hatte die Farbe gewechselt, während er sprach, aber mit fester Stimme gab sie zur Antwort, und dabei flog ein rascher, vorwurfsvoller Blick zum François hinüber: Nein, Cadet Caduchon, der Gedanke ist mir nie gekommen. „Ehre Vater und Mutter“, heißt es im Katechismus, und „reich zu reich und arm zu arm“ ist von jeher der Brauch gewesen . . . dagegen kann ich mich nicht auflehnen. Ja freilich, wenn das deine feste Meinung ist! rief der Caduchon, und es war ein Gemisch von Hohn und Zorn in seinem Ton und in seiner Miene. Du willst doch nicht fortgehen? fragte er, als er sah, daß Claudine ihr Capuchon zusammenzog. Ist nicht daran zu denken . . . setzt euch mal da an den Tisch; ich will euch eine Geschichte erzählen, die euch beide angeht. Du, François, wirst so gut sein, nicht dreinzureden. Der Caduchon hatte die letzten Worte mit so großer Ernsthaftigkeit gesagt, daß Claudine und François unwillkürlich gehorchten, indeß der Alte seine kurze, schwarzgerauchte Pfeife vom Kaminsims herunterlangte und in Brand steckte, worauf er sich neben Claudine setzte. Ich muß euch noch ein paar Worte von mir selber sagen, fing er an; lange werde ich mich nicht dabei aufhalten. Daß ich von hier gebürtig bin, wißt ihr wohl. Meine Eltern waren arm, hatten das Nest — dies Prachtgebäude war's — voll Kinder, und so hieß <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0057"/> <p>Claudine hatte die Farbe gewechselt, während er sprach, aber mit fester Stimme gab sie zur Antwort, und dabei flog ein rascher, vorwurfsvoller Blick zum François hinüber:</p><lb/> <p>Nein, Cadet Caduchon, der Gedanke ist mir nie gekommen. „Ehre Vater und Mutter“, heißt es im Katechismus, und „reich zu reich und arm zu arm“ ist von jeher der Brauch gewesen . . . dagegen kann ich mich nicht auflehnen.</p><lb/> <p>Ja freilich, wenn das deine feste Meinung ist! rief der Caduchon, und es war ein Gemisch von Hohn und Zorn in seinem Ton und in seiner Miene. Du willst doch nicht fortgehen? fragte er, als er sah, daß Claudine ihr Capuchon zusammenzog. Ist nicht daran zu denken . . . setzt euch mal da an den Tisch; ich will euch eine Geschichte erzählen, die euch beide angeht. Du, François, wirst so gut sein, nicht dreinzureden.</p><lb/> <p>Der Caduchon hatte die letzten Worte mit so großer Ernsthaftigkeit gesagt, daß Claudine und François unwillkürlich gehorchten, indeß der Alte seine kurze, schwarzgerauchte Pfeife vom Kaminsims herunterlangte und in Brand steckte, worauf er sich neben Claudine setzte.</p><lb/> <p>Ich muß euch noch ein paar Worte von mir selber sagen, fing er an; lange werde ich mich nicht dabei aufhalten. Daß ich von hier gebürtig bin, wißt ihr wohl. Meine Eltern waren arm, hatten das Nest — dies Prachtgebäude war's — voll Kinder, und so hieß<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0057]
Claudine hatte die Farbe gewechselt, während er sprach, aber mit fester Stimme gab sie zur Antwort, und dabei flog ein rascher, vorwurfsvoller Blick zum François hinüber:
Nein, Cadet Caduchon, der Gedanke ist mir nie gekommen. „Ehre Vater und Mutter“, heißt es im Katechismus, und „reich zu reich und arm zu arm“ ist von jeher der Brauch gewesen . . . dagegen kann ich mich nicht auflehnen.
Ja freilich, wenn das deine feste Meinung ist! rief der Caduchon, und es war ein Gemisch von Hohn und Zorn in seinem Ton und in seiner Miene. Du willst doch nicht fortgehen? fragte er, als er sah, daß Claudine ihr Capuchon zusammenzog. Ist nicht daran zu denken . . . setzt euch mal da an den Tisch; ich will euch eine Geschichte erzählen, die euch beide angeht. Du, François, wirst so gut sein, nicht dreinzureden.
Der Caduchon hatte die letzten Worte mit so großer Ernsthaftigkeit gesagt, daß Claudine und François unwillkürlich gehorchten, indeß der Alte seine kurze, schwarzgerauchte Pfeife vom Kaminsims herunterlangte und in Brand steckte, worauf er sich neben Claudine setzte.
Ich muß euch noch ein paar Worte von mir selber sagen, fing er an; lange werde ich mich nicht dabei aufhalten. Daß ich von hier gebürtig bin, wißt ihr wohl. Meine Eltern waren arm, hatten das Nest — dies Prachtgebäude war's — voll Kinder, und so hieß
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