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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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theil bekommen hatten, und schöne, goldgestickte Wat, in
dem sie prangen mogten; auch der gemeinste im Volke
erhielt ein weisses reines Gewand zum Feierkleid, und
man muß dem Volke Zeugniß geben, daß es die Gabe
wohl bewahrt, sorgfältig sie in seine Schränke einge-
schlossen, und noch jetzt ihrer an seltnen Tagen sich
erfreut; während die höheren Stände alle ihre Pracht
sündlich versäumt und hingegeben haben, weil sie
immer nur der Mode fröhnend, kein Herz für den alten
Plunder haben konnten. So hat die alte Zeit verbannt
bei'm Volke sich verbergen müssen, und das Volk ist
rein auch allein vom Schimpfe der bösen Zeiten ge-
blieben, die sie verdrängten. Wollt ihr sie suchen die
Verwiesenen, ihr müßt sie bei'm Volke suchen, wo
sie noch im Leben gehen, und im Staube der Biblio-
theken, wo sie schon viele Jahrhunderte den Winterschlaf
gehalten haben! Wecken wir sie denn aus dem langen
Schlummer auf, sie werden Wunder staunen, in
welchem Zustand sie die Enkel finden; die kleine
Schaamröthe mögen wir immerhin über uns ergehen
lassen. Und wenn sie denn nun wachen, und wenn
sie unserer sich angenommen haben: dann um's Himmels
Willen! laßt uns das alte Affenspiel nicht wieder auch
mit ihnen treiben, und wie Knaben hinter ihnen ziehen,
und grimassirend, voll Affectation und hohlem, taubem

theil bekommen hatten, und ſchöne, goldgeſtickte Wat, in
dem ſie prangen mogten; auch der gemeinſte im Volke
erhielt ein weiſſes reines Gewand zum Feierkleid, und
man muß dem Volke Zeugniß geben, daß es die Gabe
wohl bewahrt, ſorgfältig ſie in ſeine Schränke einge-
ſchloſſen, und noch jetzt ihrer an ſeltnen Tagen ſich
erfreut; während die höheren Stände alle ihre Pracht
ſündlich verſäumt und hingegeben haben, weil ſie
immer nur der Mode fröhnend, kein Herz für den alten
Plunder haben konnten. So hat die alte Zeit verbannt
bei’m Volke ſich verbergen müſſen, und das Volk iſt
rein auch allein vom Schimpfe der böſen Zeiten ge-
blieben, die ſie verdrängten. Wollt ihr ſie ſuchen die
Verwieſenen, ihr müßt ſie bei’m Volke ſuchen, wo
ſie noch im Leben gehen, und im Staube der Biblio-
theken, wo ſie ſchon viele Jahrhunderte den Winterſchlaf
gehalten haben! Wecken wir ſie denn aus dem langen
Schlummer auf, ſie werden Wunder ſtaunen, in
welchem Zuſtand ſie die Enkel finden; die kleine
Schaamröthe mögen wir immerhin über uns ergehen
laſſen. Und wenn ſie denn nun wachen, und wenn
ſie unſerer ſich angenommen haben: dann um’s Himmels
Willen! laßt uns das alte Affenſpiel nicht wieder auch
mit ihnen treiben, und wie Knaben hinter ihnen ziehen,
und grimaſſirend, voll Affectation und hohlem, taubem

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[304/0322] theil bekommen hatten, und ſchöne, goldgeſtickte Wat, in dem ſie prangen mogten; auch der gemeinſte im Volke erhielt ein weiſſes reines Gewand zum Feierkleid, und man muß dem Volke Zeugniß geben, daß es die Gabe wohl bewahrt, ſorgfältig ſie in ſeine Schränke einge- ſchloſſen, und noch jetzt ihrer an ſeltnen Tagen ſich erfreut; während die höheren Stände alle ihre Pracht ſündlich verſäumt und hingegeben haben, weil ſie immer nur der Mode fröhnend, kein Herz für den alten Plunder haben konnten. So hat die alte Zeit verbannt bei’m Volke ſich verbergen müſſen, und das Volk iſt rein auch allein vom Schimpfe der böſen Zeiten ge- blieben, die ſie verdrängten. Wollt ihr ſie ſuchen die Verwieſenen, ihr müßt ſie bei’m Volke ſuchen, wo ſie noch im Leben gehen, und im Staube der Biblio- theken, wo ſie ſchon viele Jahrhunderte den Winterſchlaf gehalten haben! Wecken wir ſie denn aus dem langen Schlummer auf, ſie werden Wunder ſtaunen, in welchem Zuſtand ſie die Enkel finden; die kleine Schaamröthe mögen wir immerhin über uns ergehen laſſen. Und wenn ſie denn nun wachen, und wenn ſie unſerer ſich angenommen haben: dann um’s Himmels Willen! laßt uns das alte Affenſpiel nicht wieder auch mit ihnen treiben, und wie Knaben hinter ihnen ziehen, und grimaſſirend, voll Affectation und hohlem, taubem

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/322>, abgerufen am 21.11.2024.