Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

Bild:
<< vorherige Seite

verzagen will; die Wahrheit schreit Mord über Mord, weil so übel die Gelehrten sie mißhandeln; der arme Krüppel weiß die Vortheile einer schwachen Gesundheit auszulegen; die Diagnose des alten deutschen Uebels gibt Niklas Wohlgemuth; Leib und Seele hadern in der Vision an Grabes Rand; Uebersichtigkeit hält mit wenig Haus; auch das Glück findet seinen Spruch; der Abendsegen bettet die bewegte Seele in stille Ruh. Wenn aber die Weisheit im Uebernatürlichen sich überbietet, dann wird sie Zauberey, und auch davon dürfen Anklänge dieser Poesie nicht fehlen. Der treffliche Albertus Magnus waffnet seine Kunst gegen die falsche Königin, die um Minne viele Buhlen schon verdorben, und all ihre Buhlerkunst muß an ihm verloren seyn; dreymal schwenkt der Böse die treulose Braut herum, damit zur Thür hinaus, und dann reit du und der Teufel fort; erschrocken muß das Quartanfieber vor dem Zauberspruch entfliehen. Aber hinab zu Andacht, Liebe, Hader, Jubel, Schmerz und Weisheit sendet die Todtenglocke dumpfen Hall; die gebetenen Gäste stehen einer um den andern auf, je nachdem ein Wink der verschleyerten Gestalt sie abgerufen; sind sie Kinder der Freude gewesen, sollen sie nun Kinder des Todes werden, und an der Knochenbrust die Milch der Verwesung trinken. Steigt der Zug in bunte, hell aufsingende Farben gekleidet an jener Seite auf; so sinken an der andern die Trauerchöre verhüllt hinab; immer von neuem wird der Eimer mit Lebensgeist gefüllt und wieder ausgeleert; nicht zu löschen ist der Durst der bildenden Natur nach immer neuer Lebendigkeit. Steigen die Säfte, sinken die Säfte, es ist immer dasselbe große Leben, das sie treibt; auch der Tod ist daher absteigendes Leben, er hat seine Poesie und seine Lieder. Der Tod und das Mädchen im Blumengarten halten Liebesgespräch, und das Mädchen muß dem furchtbaren Liebhaber sich ergeben; im Traum wird der Welt Pracht und Herrlichkeit ausgelegt; der Todtentanz zum Kehraus aufgespielt; ach was hilft ein Blümelein, sieben Klafter

verzagen will; die Wahrheit schreit Mord uͤber Mord, weil so uͤbel die Gelehrten sie mißhandeln; der arme Kruͤppel weiß die Vortheile einer schwachen Gesundheit auszulegen; die Diagnose des alten deutschen Uebels gibt Niklas Wohlgemuth; Leib und Seele hadern in der Vision an Grabes Rand; Uebersichtigkeit haͤlt mit wenig Haus; auch das Gluͤck findet seinen Spruch; der Abendsegen bettet die bewegte Seele in stille Ruh. Wenn aber die Weisheit im Uebernatuͤrlichen sich uͤberbietet, dann wird sie Zauberey, und auch davon duͤrfen Anklaͤnge dieser Poesie nicht fehlen. Der treffliche Albertus Magnus waffnet seine Kunst gegen die falsche Koͤnigin, die um Minne viele Buhlen schon verdorben, und all ihre Buhlerkunst muß an ihm verloren seyn; dreymal schwenkt der Boͤse die treulose Braut herum, damit zur Thuͤr hinaus, und dann reit du und der Teufel fort; erschrocken muß das Quartanfieber vor dem Zauberspruch entfliehen. Aber hinab zu Andacht, Liebe, Hader, Jubel, Schmerz und Weisheit sendet die Todtenglocke dumpfen Hall; die gebetenen Gaͤste stehen einer um den andern auf, je nachdem ein Wink der verschleyerten Gestalt sie abgerufen; sind sie Kinder der Freude gewesen, sollen sie nun Kinder des Todes werden, und an der Knochenbrust die Milch der Verwesung trinken. Steigt der Zug in bunte, hell aufsingende Farben gekleidet an jener Seite auf; so sinken an der andern die Trauerchoͤre verhuͤllt hinab; immer von neuem wird der Eimer mit Lebensgeist gefuͤllt und wieder ausgeleert; nicht zu loͤschen ist der Durst der bildenden Natur nach immer neuer Lebendigkeit. Steigen die Saͤfte, sinken die Saͤfte, es ist immer dasselbe große Leben, das sie treibt; auch der Tod ist daher absteigendes Leben, er hat seine Poesie und seine Lieder. Der Tod und das Maͤdchen im Blumengarten halten Liebesgespraͤch, und das Maͤdchen muß dem furchtbaren Liebhaber sich ergeben; im Traum wird der Welt Pracht und Herrlichkeit ausgelegt; der Todtentanz zum Kehraus aufgespielt; ach was hilft ein Bluͤmelein, sieben Klafter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0028" n="40"/>
verzagen will; die <hi rendition="#g">Wahrheit</hi> schreit Mord u&#x0364;ber Mord,  weil so u&#x0364;bel die Gelehrten sie mißhandeln; der <hi rendition="#g">arme Kru&#x0364;ppel</hi> weiß die Vortheile einer schwachen Gesundheit auszulegen; die Diagnose des <hi rendition="#g">alten deutschen Uebels</hi> gibt Niklas Wohlgemuth; Leib und Seele hadern in der <hi rendition="#g">Vision</hi> an  Grabes Rand; <hi rendition="#g">Uebersichtigkeit</hi> ha&#x0364;lt mit wenig Haus; auch das <hi rendition="#g">Glu&#x0364;ck</hi> findet seinen Spruch;  der <hi rendition="#g">Abendsegen bettet</hi> die bewegte Seele in stille Ruh. Wenn aber die Weisheit im  Uebernatu&#x0364;rlichen sich u&#x0364;berbietet, dann wird sie Zauberey, und auch davon du&#x0364;rfen  Ankla&#x0364;nge dieser Poesie nicht fehlen. Der treffliche <hi rendition="#g">Albertus Magnus</hi> waffnet seine  Kunst gegen die falsche Ko&#x0364;nigin, die um Minne viele Buhlen schon verdorben, und all  ihre Buhlerkunst muß an ihm verloren seyn; dreymal schwenkt der Bo&#x0364;se die treulose  Braut herum, damit zur Thu&#x0364;r hinaus, und dann <hi rendition="#g">reit du und der Teufe</hi>l fort; erschrocken  muß das Quartanfieber vor dem Zauberspruch entfliehen. Aber hinab zu Andacht, Liebe,  Hader, Jubel, Schmerz und Weisheit sendet die Todtenglocke dumpfen Hall; die gebetenen  Ga&#x0364;ste stehen einer um den andern auf, je nachdem ein Wink der verschleyerten Gestalt  sie abgerufen; sind sie Kinder der Freude gewesen, sollen sie nun Kinder des Todes  werden, und an der Knochenbrust die Milch der Verwesung trinken. Steigt der Zug in  bunte, hell aufsingende Farben gekleidet an jener Seite auf; so sinken an der andern  die Trauercho&#x0364;re verhu&#x0364;llt hinab; immer von neuem wird der Eimer mit Lebensgeist gefu&#x0364;llt  und wieder ausgeleert; nicht zu lo&#x0364;schen ist der <choice><sic>Dunst</sic><corr>Durst</corr></choice> der bildenden Natur nach immer  neuer Lebendigkeit. Steigen die Sa&#x0364;fte, sinken die Sa&#x0364;fte, es ist immer dasselbe große  Leben, das sie treibt; auch der Tod ist daher absteigendes Leben, er hat seine Poesie  und seine Lieder. Der <hi rendition="#g">Tod und das Ma&#x0364;dchen im Blumengarten</hi> halten Liebesgespra&#x0364;ch, und  das Ma&#x0364;dchen muß dem furchtbaren Liebhaber sich ergeben; <hi rendition="#g">im Traum</hi> wird der Welt Pracht  und Herrlichkeit ausgelegt; der Todtentanz zum Kehraus aufgespielt; <hi rendition="#g">ach was hilft ein      Blu&#x0364;melein</hi>, sieben Klafter<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0028] verzagen will; die Wahrheit schreit Mord uͤber Mord, weil so uͤbel die Gelehrten sie mißhandeln; der arme Kruͤppel weiß die Vortheile einer schwachen Gesundheit auszulegen; die Diagnose des alten deutschen Uebels gibt Niklas Wohlgemuth; Leib und Seele hadern in der Vision an Grabes Rand; Uebersichtigkeit haͤlt mit wenig Haus; auch das Gluͤck findet seinen Spruch; der Abendsegen bettet die bewegte Seele in stille Ruh. Wenn aber die Weisheit im Uebernatuͤrlichen sich uͤberbietet, dann wird sie Zauberey, und auch davon duͤrfen Anklaͤnge dieser Poesie nicht fehlen. Der treffliche Albertus Magnus waffnet seine Kunst gegen die falsche Koͤnigin, die um Minne viele Buhlen schon verdorben, und all ihre Buhlerkunst muß an ihm verloren seyn; dreymal schwenkt der Boͤse die treulose Braut herum, damit zur Thuͤr hinaus, und dann reit du und der Teufel fort; erschrocken muß das Quartanfieber vor dem Zauberspruch entfliehen. Aber hinab zu Andacht, Liebe, Hader, Jubel, Schmerz und Weisheit sendet die Todtenglocke dumpfen Hall; die gebetenen Gaͤste stehen einer um den andern auf, je nachdem ein Wink der verschleyerten Gestalt sie abgerufen; sind sie Kinder der Freude gewesen, sollen sie nun Kinder des Todes werden, und an der Knochenbrust die Milch der Verwesung trinken. Steigt der Zug in bunte, hell aufsingende Farben gekleidet an jener Seite auf; so sinken an der andern die Trauerchoͤre verhuͤllt hinab; immer von neuem wird der Eimer mit Lebensgeist gefuͤllt und wieder ausgeleert; nicht zu loͤschen ist der Durst der bildenden Natur nach immer neuer Lebendigkeit. Steigen die Saͤfte, sinken die Saͤfte, es ist immer dasselbe große Leben, das sie treibt; auch der Tod ist daher absteigendes Leben, er hat seine Poesie und seine Lieder. Der Tod und das Maͤdchen im Blumengarten halten Liebesgespraͤch, und das Maͤdchen muß dem furchtbaren Liebhaber sich ergeben; im Traum wird der Welt Pracht und Herrlichkeit ausgelegt; der Todtentanz zum Kehraus aufgespielt; ach was hilft ein Bluͤmelein, sieben Klafter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-02-08T18:42:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rudolf Brandmeyer: Herausgeber
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-02-08T18:42:42Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: dokumentiert; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/28
Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/28>, abgerufen am 21.11.2024.