wie grässlich mögen sie den bildlosen Ma- hometaner angeschaut haben!
Nicht ganz am unrechten Orte wird hier die Bemerkung stehen, dass der ur- sprüngliche Werth einer jeden Religion erst nach Verlauf von Jahrhunderten aus ihren Folgen beurtheilt werden kann. Die Jüdische Religion wird immer einen gewis- sen starren Eigensinn, dabey aber auch freien Klugsinn und lebendige Thätigkeit verbrei- ten; die Mahometanische lässt ihren Beken- ner nicht aus einer dumpfen Beschränktheit heraus, indem sie, keine schweren Pflichten fordernd, ihm innerhalb derselben alles Wün- schenswerthe verleiht und zugleich, durch Aussicht auf die Zukunft, Tapferkeit und Religionspatriotismus einflösst und erhält.
Die Indische Lehre taugte von Haus aus nichts, so wie denn gegenwärtig ihre vielen tausend Götter, und zwar nicht etwa untergeordnete, sondern alle gleich unbe- dingt mächtige Götter, die Zufälligkeiten des Lebens nur noch mehr verwirren, den Unsinn jeder Leidenschaft fördern und die Verrücktheit des Lasters, als die höchste
wie gräſslich mögen sie den bildlosen Ma- hometaner angeschaut haben!
Nicht ganz am unrechten Orte wird hier die Bemerkung stehen, daſs der ur- sprüngliche Werth einer jeden Religion erst nach Verlauf von Jahrhunderten aus ihren Folgen beurtheilt werden kann. Die Jüdische Religion wird immer einen gewis- sen starren Eigensinn, dabey aber auch freien Klugsinn und lebendige Thätigkeit verbrei- ten; die Mahometanische läſst ihren Beken- ner nicht aus einer dumpfen Beschränktheit heraus, indem sie, keine schweren Pflichten fordernd, ihm innerhalb derselben alles Wün- schenswerthe verleiht und zugleich, durch Aussicht auf die Zukunft, Tapferkeit und Religionspatriotismus einflöſst und erhält.
Die Indische Lehre taugte von Haus aus nichts, so wie denn gegenwärtig ihre vielen tausend Götter, und zwar nicht etwa untergeordnete, sondern alle gleich unbe- dingt mächtige Götter, die Zufälligkeiten des Lebens nur noch mehr verwirren, den Unsinn jeder Leidenschaft fördern und die Verrücktheit des Lasters, als die höchste
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wie gräſslich mögen sie den bildlosen Ma-
hometaner angeschaut haben!
Nicht ganz am unrechten Orte wird
hier die Bemerkung stehen, daſs der ur-
sprüngliche Werth einer jeden Religion
erst nach Verlauf von Jahrhunderten aus
ihren Folgen beurtheilt werden kann. Die
Jüdische Religion wird immer einen gewis-
sen starren Eigensinn, dabey aber auch freien
Klugsinn und lebendige Thätigkeit verbrei-
ten; die Mahometanische läſst ihren Beken-
ner nicht aus einer dumpfen Beschränktheit
heraus, indem sie, keine schweren Pflichten
fordernd, ihm innerhalb derselben alles Wün-
schenswerthe verleiht und zugleich, durch
Aussicht auf die Zukunft, Tapferkeit und
Religionspatriotismus einflöſst und erhält.
Die Indische Lehre taugte von Haus
aus nichts, so wie denn gegenwärtig ihre
vielen tausend Götter, und zwar nicht etwa
untergeordnete, sondern alle gleich unbe-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/304>, abgerufen am 22.12.2024.
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