ben ist. Nehme man nunmehr an, dass die Nacht hereinbricht und diese organischen Reste dem Auge des Beschauers wirklich glühend erscheinen, so lässt sich kein herr- lichers Bild einer tiefen, heimlichen Seelen- qual vor Augen stellen. Will sich jemand hievon ein vollkommenes Anschauen erwer- ben, so ersuche er einen Chemiker ihm Austerschaalen in den Zustand der Phos- phoreszenz zu versetzen, wo er mit uns gestehen wird, dass ein siedend heisses Ge- fühl, welches den Menschen durchdringt, wenn ein gerechter Vorwurf ihn, mitten in dem Dünkel eines zutraulichen Selbst- gefühls, unerwartet betrifft, nicht furchtbarer auszusprechen sey.
Solcher Gleichnisse würden sich zu Hunderten auffinden lassen, die das unmit- telbarste Anschauen des Natürlichen, Wirk- lichen voraussetzen und zugleich wiederum einen hohen sittlichen Begriff erwecken, der aus dem Grunde eines reinen ausgebil- deten Gefühls hervorsteigt.
Höchst schätzenswerth ist, bey dieser gränzenlosen Breite, ihre Aufmerksamkeit aufs Einzelne, der scharfe liebevolle Blick
ben ist. Nehme man nunmehr an, daſs die Nacht hereinbricht und diese organischen Reste dem Auge des Beschauers wirklich glühend erscheinen, so läſst sich kein herr- lichers Bild einer tiefen, heimlichen Seelen- qual vor Augen stellen. Will sich jemand hievon ein vollkommenes Anschauen erwer- ben, so ersuche er einen Chemiker ihm Austerschaalen in den Zustand der Phos- phoreszenz zu versetzen, wo er mit uns gestehen wird, daſs ein siedend heiſses Ge- fühl, welches den Menschen durchdringt, wenn ein gerechter Vorwurf ihn, mitten in dem Dünkel eines zutraulichen Selbst- gefühls, unerwartet betrifft, nicht furchtbarer auszusprechen sey.
Solcher Gleichnisse würden sich zu Hunderten auffinden lassen, die das unmit- telbarste Anschauen des Natürlichen, Wirk- lichen voraussetzen und zugleich wiederum einen hohen sittlichen Begriff erwecken, der aus dem Grunde eines reinen ausgebil- deten Gefühls hervorsteigt.
Höchst schätzenswerth ist, bey dieser gränzenlosen Breite, ihre Aufmerksamkeit aufs Einzelne, der scharfe liebevolle Blick
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ben ist. Nehme man nunmehr an, daſs die
Nacht hereinbricht und diese organischen
Reste dem Auge des Beschauers wirklich
glühend erscheinen, so läſst sich kein herr-
lichers Bild einer tiefen, heimlichen Seelen-
qual vor Augen stellen. Will sich jemand
hievon ein vollkommenes Anschauen erwer-
ben, so ersuche er einen Chemiker ihm
Austerschaalen in den Zustand der Phos-
phoreszenz zu versetzen, wo er mit uns
gestehen wird, daſs ein siedend heiſses Ge-
fühl, welches den Menschen durchdringt,
wenn ein gerechter Vorwurf ihn, mitten
in dem Dünkel eines zutraulichen Selbst-
gefühls, unerwartet betrifft, nicht furchtbarer
auszusprechen sey.
Solcher Gleichnisse würden sich zu
Hunderten auffinden lassen, die das unmit-
telbarste Anschauen des Natürlichen, Wirk-
lichen voraussetzen und zugleich wiederum
einen hohen sittlichen Begriff erwecken,
der aus dem Grunde eines reinen ausgebil-
deten Gefühls hervorsteigt.
Höchst schätzenswerth ist, bey dieser
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/339>, abgerufen am 22.12.2024.
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