und Gebrechen, der Führerin zum Ziele innerer Beruhigung, oder im Epos findet, welches mit unpartheyischer Kühnheit das Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan- zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und zu einem reinen Bilde des Daseyns verei- nigt. Wenn es nämlich der menschlichen Natur gemäss, und ein Zeichen ihrer höhe- ren Abkunft ist, dass sie das Edle mensch- licher Handlungen, und jede höhere Voll- kommenheit mit Begeisterung erfasst, und sich an deren Erwägung gleichsam das in- nere Leben erneuert, so ist die Lobprei- sung auch der Macht und Gewalt, wie sie in Fürsten sich offenbart, eine herrliche Erscheinung im Gebiete der Poesie, und bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur darum in Verachtung gesunken, weil die- jenigen, die sich derselben hingaben, mei- stens nicht Dichter, sondern nur feile Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal- deron seinen König preisen hört, mag hier, wo der kühnste Aufschwung der Phantasie ihn mit fortreisst, an Käuflichkeit des Lo-
und Gebrechen, der Führerin zum Ziele innerer Beruhigung, oder im Epos findet, welches mit unpartheyischer Kühnheit das Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan- zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und zu einem reinen Bilde des Daseyns verei- nigt. Wenn es nämlich der menschlichen Natur gemäſs, und ein Zeichen ihrer höhe- ren Abkunft ist, daſs sie das Edle mensch- licher Handlungen, und jede höhere Voll- kommenheit mit Begeisterung erfaſst, und sich an deren Erwägung gleichsam das in- nere Leben erneuert, so ist die Lobprei- sung auch der Macht und Gewalt, wie sie in Fürsten sich offenbart, eine herrliche Erscheinung im Gebiete der Poesie, und bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur darum in Verachtung gesunken, weil die- jenigen, die sich derselben hingaben, mei- stens nicht Dichter, sondern nur feile Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal- deron seinen König preisen hört, mag hier, wo der kühnste Aufschwung der Phantasie ihn mit fortreiſst, an Käuflichkeit des Lo-
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und Gebrechen, der Führerin zum Ziele
innerer Beruhigung, oder im Epos findet,
welches mit unpartheyischer Kühnheit das
Edelste menschlicher Trefflichkeit neben die
nicht mehr getadelte, sondern als zum Gan-
zen wirkende Gewöhnlichkeit des Lebens
hinstellt, und beyde Gegensätze auflöst und
zu einem reinen Bilde des Daseyns verei-
nigt. Wenn es nämlich der menschlichen
Natur gemäſs, und ein Zeichen ihrer höhe-
ren Abkunft ist, daſs sie das Edle mensch-
licher Handlungen, und jede höhere Voll-
kommenheit mit Begeisterung erfaſst, und
sich an deren Erwägung gleichsam das in-
nere Leben erneuert, so ist die Lobprei-
sung auch der Macht und Gewalt, wie sie
in Fürsten sich offenbart, eine herrliche
Erscheinung im Gebiete der Poesie, und
bey uns, mit vollestem Rechte zwar, nur
darum in Verachtung gesunken, weil die-
jenigen, die sich derselben hingaben, mei-
stens nicht Dichter, sondern nur feile
Schmeichler gewesen. Wer aber, der Cal-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/358>, abgerufen am 22.12.2024.
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