"Die Aehnlichkeit Hafisens mit Horaz in den Ansichten des Lebens ist auffallend, und möchte einzig nur durch die Aehnlich- keit der Zeitalter, in welchen beyde Dich- ter gelebt, wo, bey Zerstörung aller Sicher- heit des bürgerlichen Daseyns, der Mensch sich auf flüchtigen, gleichsam im Vorüber- gehen gehaschten Genuss des Lebens be- schränkt, zu erklären seyn."
Was wir aber inständig bitten ist, dass man Firdusi nicht mit Homer vergleiche, weil er in jedem Sinne, dem Stoff, der Form, der Behandlung nach, verlieren muss. Wer sich hiervon überzeugen will verglei- che die furchtbare Monotonie der sieben Abenteuer des Isfendiar mit dem drey und zwanzigsten Gesang der Ilias, wo, zur Tod- tenfeyer Patroklos, die mannigfaltigsten Preise, von den verschiedenartigsten Helden, auf die verschiedenste Art gewonnen wer- den. Haben wir Deutsche nicht unsern herrlichen Niebelungen durch solche Ver- gleichung den grössten Schaden gethan? So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich und dankbar aufnimmt, so wun-
„Die Aehnlichkeit Hafisens mit Horaz in den Ansichten des Lebens ist auffallend, und möchte einzig nur durch die Aehnlich- keit der Zeitalter, in welchen beyde Dich- ter gelebt, wo, bey Zerstörung aller Sicher- heit des bürgerlichen Daseyns, der Mensch sich auf flüchtigen, gleichsam im Vorüber- gehen gehaschten Genuſs des Lebens be- schränkt, zu erklären seyn.“
Was wir aber inständig bitten ist, daſs man Firdusi nicht mit Homer vergleiche, weil er in jedem Sinne, dem Stoff, der Form, der Behandlung nach, verlieren muſs. Wer sich hiervon überzeugen will verglei- che die furchtbare Monotonie der sieben Abenteuer des Isfendiar mit dem drey und zwanzigsten Gesang der Ilias, wo, zur Tod- tenfeyer Patroklos, die mannigfaltigsten Preise, von den verschiedenartigsten Helden, auf die verschiedenste Art gewonnen wer- den. Haben wir Deutsche nicht unsern herrlichen Niebelungen durch solche Ver- gleichung den gröſsten Schaden gethan? So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich und dankbar aufnimmt, so wun-
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„Die Aehnlichkeit Hafisens mit Horaz
in den Ansichten des Lebens ist auffallend,
und möchte einzig nur durch die Aehnlich-
keit der Zeitalter, in welchen beyde Dich-
ter gelebt, wo, bey Zerstörung aller Sicher-
heit des bürgerlichen Daseyns, der Mensch
sich auf flüchtigen, gleichsam im Vorüber-
gehen gehaschten Genuſs des Lebens be-
schränkt, zu erklären seyn.“
Was wir aber inständig bitten ist, daſs
man Firdusi nicht mit Homer vergleiche,
weil er in jedem Sinne, dem Stoff, der
Form, der Behandlung nach, verlieren muſs.
Wer sich hiervon überzeugen will verglei-
che die furchtbare Monotonie der sieben
Abenteuer des Isfendiar mit dem drey und
zwanzigsten Gesang der Ilias, wo, zur Tod-
tenfeyer Patroklos, die mannigfaltigsten
Preise, von den verschiedenartigsten Helden,
auf die verschiedenste Art gewonnen wer-
den. Haben wir Deutsche nicht unsern
herrlichen Niebelungen durch solche Ver-
gleichung den gröſsten Schaden gethan? So
höchst erfreulich sie sind, wenn man sich
in ihren Kreis recht einbürgert und alles
vertraulich und dankbar aufnimmt, so wun-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/380>, abgerufen am 22.12.2024.
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