kommen unendlich erschwert werden muss. Man begreift nicht, warum Gesetze für die Zukunft, die noch völlig im Ungewis- sen schwebt, zu einer Zeit ausgesprochen werden, wo es jeden Tag, jede Stunde an Rath und That gebricht, und der Heerfüh- rer, der auf seinen Füssen stehen sollte, sich wiederholt aufs Angesicht wirft, um Gnaden und Strafen von oben zu erflehen, die beyde nur verzettelt gereicht werden, so dass man mit dem verirrten Volke den Hauptzweck völlig aus den Augen ver- liert.
Um mich nun in diesem Labyrinthe zu finden, gab ich mir die Mühe, sorgfäl- tig zu sondern, was eigentliche Erzählung ist, es mochte nun für Historie für Fabel, oder für beides zusammen, für Poesie gel- ten. Ich sonderte dieses von dem was ge- lehret und geboten wird. Unter dem er- sten verstehe ich das, was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäss seyn würde, und unter dem zweyten, was das Volk Israels besonders angeht und verbin- det. In wiefern mir das gelungen, wage ich selbst kaum zu beurtheilen, indem ich
kommen unendlich erschwert werden muſs. Man begreift nicht, warum Gesetze für die Zukunft, die noch völlig im Ungewis- sen schwebt, zu einer Zeit ausgesprochen werden, wo es jeden Tag, jede Stunde an Rath und That gebricht, und der Heerfüh- rer, der auf seinen Füſsen stehen sollte, sich wiederholt aufs Angesicht wirft, um Gnaden und Strafen von oben zu erflehen, die beyde nur verzettelt gereicht werden, so daſs man mit dem verirrten Volke den Hauptzweck völlig aus den Augen ver- liert.
Um mich nun in diesem Labyrinthe zu finden, gab ich mir die Mühe, sorgfäl- tig zu sondern, was eigentliche Erzählung ist, es mochte nun für Historie für Fabel, oder für beides zusammen, für Poesie gel- ten. Ich sonderte dieses von dem was ge- lehret und geboten wird. Unter dem er- sten verstehe ich das, was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäſs seyn würde, und unter dem zweyten, was das Volk Israels besonders angeht und verbin- det. In wiefern mir das gelungen, wage ich selbst kaum zu beurtheilen, indem ich
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[427[429]/0439]
kommen unendlich erschwert werden muſs.
Man begreift nicht, warum Gesetze für
die Zukunft, die noch völlig im Ungewis-
sen schwebt, zu einer Zeit ausgesprochen
werden, wo es jeden Tag, jede Stunde an
Rath und That gebricht, und der Heerfüh-
rer, der auf seinen Füſsen stehen sollte,
sich wiederholt aufs Angesicht wirft, um
Gnaden und Strafen von oben zu erflehen,
die beyde nur verzettelt gereicht werden,
so daſs man mit dem verirrten Volke den
Hauptzweck völlig aus den Augen ver-
liert.
Um mich nun in diesem Labyrinthe
zu finden, gab ich mir die Mühe, sorgfäl-
tig zu sondern, was eigentliche Erzählung
ist, es mochte nun für Historie für Fabel,
oder für beides zusammen, für Poesie gel-
ten. Ich sonderte dieses von dem was ge-
lehret und geboten wird. Unter dem er-
sten verstehe ich das, was allen Ländern,
allen sittlichen Menschen gemäſs seyn
würde, und unter dem zweyten, was das
Volk Israels besonders angeht und verbin-
det. In wiefern mir das gelungen, wage
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 427[429]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/439>, abgerufen am 22.12.2024.
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