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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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uralte Ueberlieferung verhiess, in Hoffnung
der Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung,
erkennt keine weiteren Pflichten. Unter
dem Schein eines allgemeinen Festes lockt
man Gold- und Silbergeschirre den Nach-
barn ab, und in dem Augenblick da der
Aegypter den Israeliten mit harmlosen Gast-
malen beschäftigt glaubt, wird eine umge-
kehrte sicilianische Vesper unternommen;
der Fremde ermordet den Einheimischen,
der Gast den Wirth, und, geleitet durch
eine grausame Politik, erschlägt man nur
den Erstgebornen, um, in einem Lande,
wo die Erstgeburt so viele Rechte geniesst,
den Eigennutz der Nachgebornen zu be-
schäftigen, und der augenblicklichen Rache
durch eine eilige Flucht entgehen zu kön-
nen. Der Kunstgriff gelingt, man stösst
die Mörder aus, anstatt sie zu bestrafen.
Nur spät versammelt der König sein Heer,
aber die, den Fussvölkern sonst so fürch-
terlichen, Reiter und Sichelwagen streiten
auf einem sumpfigen Boden einen unglei-
chen Kampf mit dem leichten und leicht
bewaffneten Nachtrab; wahrscheinlich mit
demselben entschlossenen, kühnen Haufen,

28 *

uralte Ueberlieferung verhieſs, in Hoffnung
der Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung,
erkennt keine weiteren Pflichten. Unter
dem Schein eines allgemeinen Festes lockt
man Gold- und Silbergeschirre den Nach-
barn ab, und in dem Augenblick da der
Aegypter den Israeliten mit harmlosen Gast-
malen beschäftigt glaubt, wird eine umge-
kehrte sicilianische Vesper unternommen;
der Fremde ermordet den Einheimischen,
der Gast den Wirth, und, geleitet durch
eine grausame Politik, erschlägt man nur
den Erstgebornen, um, in einem Lande,
wo die Erstgeburt so viele Rechte genieſst,
den Eigennutz der Nachgebornen zu be-
schäftigen, und der augenblicklichen Rache
durch eine eilige Flucht entgehen zu kön-
nen. Der Kunstgriff gelingt, man stöſst
die Mörder aus, anstatt sie zu bestrafen.
Nur spät versammelt der König sein Heer,
aber die, den Fuſsvölkern sonst so fürch-
terlichen, Reiter und Sichelwagen streiten
auf einem sumpfigen Boden einen unglei-
chen Kampf mit dem leichten und leicht
bewaffneten Nachtrab; wahrscheinlich mit
demselben entschlossenen, kühnen Haufen,

28 *
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[433[435]/0445] uralte Ueberlieferung verhieſs, in Hoffnung der Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung, erkennt keine weiteren Pflichten. Unter dem Schein eines allgemeinen Festes lockt man Gold- und Silbergeschirre den Nach- barn ab, und in dem Augenblick da der Aegypter den Israeliten mit harmlosen Gast- malen beschäftigt glaubt, wird eine umge- kehrte sicilianische Vesper unternommen; der Fremde ermordet den Einheimischen, der Gast den Wirth, und, geleitet durch eine grausame Politik, erschlägt man nur den Erstgebornen, um, in einem Lande, wo die Erstgeburt so viele Rechte genieſst, den Eigennutz der Nachgebornen zu be- schäftigen, und der augenblicklichen Rache durch eine eilige Flucht entgehen zu kön- nen. Der Kunstgriff gelingt, man stöſst die Mörder aus, anstatt sie zu bestrafen. Nur spät versammelt der König sein Heer, aber die, den Fuſsvölkern sonst so fürch- terlichen, Reiter und Sichelwagen streiten auf einem sumpfigen Boden einen unglei- chen Kampf mit dem leichten und leicht bewaffneten Nachtrab; wahrscheinlich mit demselben entschlossenen, kühnen Haufen, 28 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 433[435]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/445>, abgerufen am 01.09.2024.