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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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Franzose, wie er sich fremde Worte mund-
recht macht, verfährt auch so mit den Ge-
fühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er
fordert durchaus für jede fremde Frucht
ein Surrogat das auf seinem eignen Grund
und Boden gewachsen sey.

Wielands Uebersetzungen gehören zu
dieser Art und Weise; auch er hatte einen
eigenthümlichen Verstands- und Geschmack-
sinn, mit dem er sich dem Alterthum, dem
Auslande nur insofern annäherte, als er
seine Convenienz dabey fand. Dieser vor-
zügliche Mann darf als Repräsentant seiner
Zeit angesehen werden; er hat ausseror-
dentlich gewirkt, indem gerade das was
ihn anmuthete, wie er sichs zueignete und
es wieder mittheilte, auch seinen Zeitge-
nossen angenehm und geniessbar begeg-
nete.

Weil man aber weder im Vollkommenen
noch Unvollkommenen lange verharren
kann, sondern eine Umwandlung nach der
andern immerhin erfolgen muss; so erleb-
ten wir den dritten Zeitraum, welcher der
höchste und letzte zu nennen ist, derjenige
nämlich, wo man die Uebersetzung dem Ori-

Franzose, wie er sich fremde Worte mund-
recht macht, verfährt auch so mit den Ge-
fühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er
fordert durchaus für jede fremde Frucht
ein Surrogat das auf seinem eignen Grund
und Boden gewachsen sey.

Wielands Uebersetzungen gehören zu
dieser Art und Weise; auch er hatte einen
eigenthümlichen Verstands- und Geschmack-
sinn, mit dem er sich dem Alterthum, dem
Auslande nur insofern annäherte, als er
seine Convenienz dabey fand. Dieser vor-
zügliche Mann darf als Repräsentant seiner
Zeit angesehen werden; er hat auſseror-
dentlich gewirkt, indem gerade das was
ihn anmuthete, wie er sichs zueignete und
es wieder mittheilte, auch seinen Zeitge-
nossen angenehm und genieſsbar begeg-
nete.

Weil man aber weder im Vollkommenen
noch Unvollkommenen lange verharren
kann, sondern eine Umwandlung nach der
andern immerhin erfolgen muſs; so erleb-
ten wir den dritten Zeitraum, welcher der
höchste und letzte zu nennen ist, derjenige
nämlich, wo man die Uebersetzung dem Ori-

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[528/0538] Franzose, wie er sich fremde Worte mund- recht macht, verfährt auch so mit den Ge- fühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er fordert durchaus für jede fremde Frucht ein Surrogat das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sey. Wielands Uebersetzungen gehören zu dieser Art und Weise; auch er hatte einen eigenthümlichen Verstands- und Geschmack- sinn, mit dem er sich dem Alterthum, dem Auslande nur insofern annäherte, als er seine Convenienz dabey fand. Dieser vor- zügliche Mann darf als Repräsentant seiner Zeit angesehen werden; er hat auſseror- dentlich gewirkt, indem gerade das was ihn anmuthete, wie er sichs zueignete und es wieder mittheilte, auch seinen Zeitge- nossen angenehm und genieſsbar begeg- nete. Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muſs; so erleb- ten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Uebersetzung dem Ori-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/538>, abgerufen am 22.12.2024.