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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Nach des Plinius Behauptung stimmten alle älte-
ren Ueberlieferungen darin überein, daß die Malerey
eigentlich vom Umriß eines menschlichen Schattens be-
gonnen habe; welches unter der Bedingung für wahr-
scheinlich gelten kann, daß man sich dabey nicht etwa
wirkliche Schatten- oder Silhouettenfiguren denke;
sondern vielmehr die ersten Linearversuche, eine Gestalt
auf eine Fläche aufzuzeichnen: denn dieses ist ja in
der That das Elementare der Malerey.

Ardices und Telephancs, sagt Plinius, hatten
zuerst diese Art von Kunst geübt, noch aber keiner
Farben sich bedient, sondern nur innerhalb der Figu-
ren hin und wieder Linien gezogen; wobey er hinzu-
fügt, es sey in dieser ersten Zeit üblich gewesen, je-
desmal daneben zu schreiben, wen man abgemalt
habe.

Hier zeigt sich dieselbe Bemühung, Formen und
Gestalten darzustellen, wie wir noch an den Kindern
gewahr werden, wenn sie spielend ihre Popanze an
die Wände zeichnen.

Schelte indessen Niemand die alten Erfinder der
Kunst kindischen oder unreifen Geistes, wenn auch
die Werke, die sie verfertigten, sich mit dem Bestre-
ben der Kinder vergleichen lassen. Denn durch sie ist
der erste Anlaß zur Malerey, zur Darstellung erho-
bener runder Gegenstände auf ebener Fläche, in die
Welt gekommen, und jeder erste Schritt kann als ein
großer und wichtiger angesehen werden.

Nach des Plinius Behauptung ſtimmten alle aͤlte-
ren Ueberlieferungen darin uͤberein, daß die Malerey
eigentlich vom Umriß eines menſchlichen Schattens be-
gonnen habe; welches unter der Bedingung fuͤr wahr-
ſcheinlich gelten kann, daß man ſich dabey nicht etwa
wirkliche Schatten- oder Silhouettenfiguren denke;
ſondern vielmehr die erſten Linearverſuche, eine Geſtalt
auf eine Flaͤche aufzuzeichnen: denn dieſes iſt ja in
der That das Elementare der Malerey.

Ardices und Telephancs, ſagt Plinius, hatten
zuerſt dieſe Art von Kunſt geuͤbt, noch aber keiner
Farben ſich bedient, ſondern nur innerhalb der Figu-
ren hin und wieder Linien gezogen; wobey er hinzu-
fuͤgt, es ſey in dieſer erſten Zeit uͤblich geweſen, je-
desmal daneben zu ſchreiben, wen man abgemalt
habe.

Hier zeigt ſich dieſelbe Bemuͤhung, Formen und
Geſtalten darzuſtellen, wie wir noch an den Kindern
gewahr werden, wenn ſie ſpielend ihre Popanze an
die Waͤnde zeichnen.

Schelte indeſſen Niemand die alten Erfinder der
Kunſt kindiſchen oder unreifen Geiſtes, wenn auch
die Werke, die ſie verfertigten, ſich mit dem Beſtre-
ben der Kinder vergleichen laſſen. Denn durch ſie iſt
der erſte Anlaß zur Malerey, zur Darſtellung erho-
bener runder Gegenſtaͤnde auf ebener Flaͤche, in die
Welt gekommen, und jeder erſte Schritt kann als ein
großer und wichtiger angeſehen werden.

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[70/0104] Nach des Plinius Behauptung ſtimmten alle aͤlte- ren Ueberlieferungen darin uͤberein, daß die Malerey eigentlich vom Umriß eines menſchlichen Schattens be- gonnen habe; welches unter der Bedingung fuͤr wahr- ſcheinlich gelten kann, daß man ſich dabey nicht etwa wirkliche Schatten- oder Silhouettenfiguren denke; ſondern vielmehr die erſten Linearverſuche, eine Geſtalt auf eine Flaͤche aufzuzeichnen: denn dieſes iſt ja in der That das Elementare der Malerey. Ardices und Telephancs, ſagt Plinius, hatten zuerſt dieſe Art von Kunſt geuͤbt, noch aber keiner Farben ſich bedient, ſondern nur innerhalb der Figu- ren hin und wieder Linien gezogen; wobey er hinzu- fuͤgt, es ſey in dieſer erſten Zeit uͤblich geweſen, je- desmal daneben zu ſchreiben, wen man abgemalt habe. Hier zeigt ſich dieſelbe Bemuͤhung, Formen und Geſtalten darzuſtellen, wie wir noch an den Kindern gewahr werden, wenn ſie ſpielend ihre Popanze an die Waͤnde zeichnen. Schelte indeſſen Niemand die alten Erfinder der Kunſt kindiſchen oder unreifen Geiſtes, wenn auch die Werke, die ſie verfertigten, ſich mit dem Beſtre- ben der Kinder vergleichen laſſen. Denn durch ſie iſt der erſte Anlaß zur Malerey, zur Darſtellung erho- bener runder Gegenſtaͤnde auf ebener Flaͤche, in die Welt gekommen, und jeder erſte Schritt kann als ein großer und wichtiger angeſehen werden.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/104>, abgerufen am 18.05.2024.