Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf diese Weise möchten sich Demokrit, Epikur
und Lukrez verhalten. Bey dem Letztern finden wir
die Gesinnung der Erstern, aber schon als Ueberzeu-
gungsbekenntniß erstarrt und leidenschaftlich parteiisch
überliefert.

Jene Ungewißheit dieser Lehre, die wir schon oben
bemerkt, verbunden mit solcher Lebhaftigkeit einer Lehr-
überlieferung, läßt uns den Uebergang zur Lehre der
Pyrrhonier finden. Diesen war alles ungewiß,
wie es Jedem wird, der die zufälligen Bezüge irdischer
Dinge gegen einander zu seinem Hauptaugenmerk
macht; und am wenigsten wäre ihnen zu verargen,
daß sie die schwankende, schwebende, kaum zu erha-
schende Farbe für ein unsicheres, nichtiges Meteor an-
sehen: allein auch in diesem Puncte ist nichts von ih-
nen zu lernen, als was man meiden soll.

Dagegen nahen wir uns dem Empedokles
mit Vertrauen und Zuversicht. Er erkennt ein Aeuße-
res an, die Materie; ein Inneres, die Organisation.
Er läßt die verschiedenen Wirkungen der ersten, das
mannigfaltig Verflochtene der andern, gelten. Seine
poroo machen uns nicht irre. Freylich entspringen sie
aus der gemein-sinnlichen Vorstellungsart. Ein Flüs-
siges soll sich bestimmt bewegen; da muß es ja wohl
eingeschlossen seyn, und so ist der Canal schon fertig.
Und doch läßt sich bemerken, daß dieser Alte gedachte
Vorstellung keinesweges so roh und körperlich genommen
habe, als manche Neuern; daß er vielmehr daran nur
ein bequemes faßliches Symbol gefunden. Denn die

Auf dieſe Weiſe moͤchten ſich Demokrit, Epikur
und Lukrez verhalten. Bey dem Letztern finden wir
die Geſinnung der Erſtern, aber ſchon als Ueberzeu-
gungsbekenntniß erſtarrt und leidenſchaftlich parteiiſch
uͤberliefert.

Jene Ungewißheit dieſer Lehre, die wir ſchon oben
bemerkt, verbunden mit ſolcher Lebhaftigkeit einer Lehr-
uͤberlieferung, laͤßt uns den Uebergang zur Lehre der
Pyrrhonier finden. Dieſen war alles ungewiß,
wie es Jedem wird, der die zufaͤlligen Bezuͤge irdiſcher
Dinge gegen einander zu ſeinem Hauptaugenmerk
macht; und am wenigſten waͤre ihnen zu verargen,
daß ſie die ſchwankende, ſchwebende, kaum zu erha-
ſchende Farbe fuͤr ein unſicheres, nichtiges Meteor an-
ſehen: allein auch in dieſem Puncte iſt nichts von ih-
nen zu lernen, als was man meiden ſoll.

Dagegen nahen wir uns dem Empedokles
mit Vertrauen und Zuverſicht. Er erkennt ein Aeuße-
res an, die Materie; ein Inneres, die Organiſation.
Er laͤßt die verſchiedenen Wirkungen der erſten, das
mannigfaltig Verflochtene der andern, gelten. Seine
πόροω machen uns nicht irre. Freylich entſpringen ſie
aus der gemein-ſinnlichen Vorſtellungsart. Ein Fluͤſ-
ſiges ſoll ſich beſtimmt bewegen; da muß es ja wohl
eingeſchloſſen ſeyn, und ſo iſt der Canal ſchon fertig.
Und doch laͤßt ſich bemerken, daß dieſer Alte gedachte
Vorſtellung keinesweges ſo roh und koͤrperlich genommen
habe, als manche Neuern; daß er vielmehr daran nur
ein bequemes faßliches Symbol gefunden. Denn die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0145" n="111"/>
          <p>Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e mo&#x0364;chten &#x017F;ich Demokrit, Epikur<lb/>
und Lukrez verhalten. Bey dem Letztern finden wir<lb/>
die Ge&#x017F;innung der Er&#x017F;tern, aber &#x017F;chon als Ueberzeu-<lb/>
gungsbekenntniß er&#x017F;tarrt und leiden&#x017F;chaftlich parteii&#x017F;ch<lb/>
u&#x0364;berliefert.</p><lb/>
          <p>Jene Ungewißheit die&#x017F;er Lehre, die wir &#x017F;chon oben<lb/>
bemerkt, verbunden mit &#x017F;olcher Lebhaftigkeit einer Lehr-<lb/>
u&#x0364;berlieferung, la&#x0364;ßt uns den Uebergang zur Lehre der<lb/><hi rendition="#g">Pyrrhonier</hi> finden. Die&#x017F;en war alles ungewiß,<lb/>
wie es Jedem wird, der die zufa&#x0364;lligen Bezu&#x0364;ge irdi&#x017F;cher<lb/>
Dinge gegen einander zu &#x017F;einem Hauptaugenmerk<lb/>
macht; und am wenig&#x017F;ten wa&#x0364;re ihnen zu verargen,<lb/>
daß &#x017F;ie die &#x017F;chwankende, &#x017F;chwebende, kaum zu erha-<lb/>
&#x017F;chende Farbe fu&#x0364;r ein un&#x017F;icheres, nichtiges Meteor an-<lb/>
&#x017F;ehen: allein auch in die&#x017F;em Puncte i&#x017F;t nichts von ih-<lb/>
nen zu lernen, als was man meiden &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>Dagegen nahen wir uns dem <hi rendition="#g">Empedokles</hi><lb/>
mit Vertrauen und Zuver&#x017F;icht. Er erkennt ein Aeuße-<lb/>
res an, die Materie; ein Inneres, die Organi&#x017F;ation.<lb/>
Er la&#x0364;ßt die ver&#x017F;chiedenen Wirkungen der er&#x017F;ten, das<lb/>
mannigfaltig Verflochtene der andern, gelten. Seine<lb/>
&#x03C0;&#x03CC;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C9; machen uns nicht irre. Freylich ent&#x017F;pringen &#x017F;ie<lb/>
aus der gemein-&#x017F;innlichen Vor&#x017F;tellungsart. Ein Flu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;iges &#x017F;oll &#x017F;ich be&#x017F;timmt bewegen; da muß es ja wohl<lb/>
einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn, und &#x017F;o i&#x017F;t der Canal &#x017F;chon fertig.<lb/>
Und doch la&#x0364;ßt &#x017F;ich bemerken, daß die&#x017F;er Alte gedachte<lb/>
Vor&#x017F;tellung keinesweges &#x017F;o roh und ko&#x0364;rperlich genommen<lb/>
habe, als manche Neuern; daß er vielmehr daran nur<lb/>
ein bequemes faßliches Symbol gefunden. Denn die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0145] Auf dieſe Weiſe moͤchten ſich Demokrit, Epikur und Lukrez verhalten. Bey dem Letztern finden wir die Geſinnung der Erſtern, aber ſchon als Ueberzeu- gungsbekenntniß erſtarrt und leidenſchaftlich parteiiſch uͤberliefert. Jene Ungewißheit dieſer Lehre, die wir ſchon oben bemerkt, verbunden mit ſolcher Lebhaftigkeit einer Lehr- uͤberlieferung, laͤßt uns den Uebergang zur Lehre der Pyrrhonier finden. Dieſen war alles ungewiß, wie es Jedem wird, der die zufaͤlligen Bezuͤge irdiſcher Dinge gegen einander zu ſeinem Hauptaugenmerk macht; und am wenigſten waͤre ihnen zu verargen, daß ſie die ſchwankende, ſchwebende, kaum zu erha- ſchende Farbe fuͤr ein unſicheres, nichtiges Meteor an- ſehen: allein auch in dieſem Puncte iſt nichts von ih- nen zu lernen, als was man meiden ſoll. Dagegen nahen wir uns dem Empedokles mit Vertrauen und Zuverſicht. Er erkennt ein Aeuße- res an, die Materie; ein Inneres, die Organiſation. Er laͤßt die verſchiedenen Wirkungen der erſten, das mannigfaltig Verflochtene der andern, gelten. Seine πόροω machen uns nicht irre. Freylich entſpringen ſie aus der gemein-ſinnlichen Vorſtellungsart. Ein Fluͤſ- ſiges ſoll ſich beſtimmt bewegen; da muß es ja wohl eingeſchloſſen ſeyn, und ſo iſt der Canal ſchon fertig. Und doch laͤßt ſich bemerken, daß dieſer Alte gedachte Vorſtellung keinesweges ſo roh und koͤrperlich genommen habe, als manche Neuern; daß er vielmehr daran nur ein bequemes faßliches Symbol gefunden. Denn die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/145
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/145>, abgerufen am 24.11.2024.