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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Sinnlichkeit und neigen sich zum Oberflächlichen. Die
Unsicherheit der Sinne wird anerkannt; man findet sich
genöthigt, nach einer Controlle umherzuschauen, die
aber nicht gefunden wird. Denn anstatt bey der Ver-
wandtschaft der Sinne nach einem ideellen Sinn auf-
zublicken, in dem sich alle vereinigten; so wird das
Gesehene in ein Getastetes verwandelt, der schärfste
Sinn soll sich in den stumpfsten auflösen, uns durch
ihn begreiflicher werden. Daher entsteht Ungewißheit
anstatt einer Gewißheit. Die Farbe ist nicht, weil sie
nicht getastet werden kann, oder sie ist nur insofern,
als sie allenfalls tastbar werden könnte. Daher die
Symbole von dem Tasten hergenommen werden. Wie
sich die Oberflächen glatt, rauh, scharf, eckig und spitz
finden, so entspringen auch die Farben aus diesen ver-
schiedenen Zuständen. Auf welche Weise sich aber hier-
mit die Behauptung vereinigen lasse, die Farbe sey
ganz conventionell, getrauen wir uns nicht aufzulösen.
Denn sobald eine gewisse Eigenschaft der Oberfläche
eine gewisse Farbe mit sich führt, so kann es doch
hier nicht ganz an einem bestimmten Verhältniß
fehlen.

Betrachten wir nun Epikur und Lukrez, so
gedenken wir einer allgemeinen Bemerkung, daß die
originellen Lehrer immer noch das Unauflösbare der
Aufgabe empfinden, und sich ihr auf eine naive ge-
lenke Weise zu nähern suchen. Die Nachfolger werden
schon didactisch, und weiterhin steigt das Dogmatische
bis zum Intoleranten.

Sinnlichkeit und neigen ſich zum Oberflaͤchlichen. Die
Unſicherheit der Sinne wird anerkannt; man findet ſich
genoͤthigt, nach einer Controlle umherzuſchauen, die
aber nicht gefunden wird. Denn anſtatt bey der Ver-
wandtſchaft der Sinne nach einem ideellen Sinn auf-
zublicken, in dem ſich alle vereinigten; ſo wird das
Geſehene in ein Getaſtetes verwandelt, der ſchaͤrfſte
Sinn ſoll ſich in den ſtumpfſten aufloͤſen, uns durch
ihn begreiflicher werden. Daher entſteht Ungewißheit
anſtatt einer Gewißheit. Die Farbe iſt nicht, weil ſie
nicht getaſtet werden kann, oder ſie iſt nur inſofern,
als ſie allenfalls taſtbar werden koͤnnte. Daher die
Symbole von dem Taſten hergenommen werden. Wie
ſich die Oberflaͤchen glatt, rauh, ſcharf, eckig und ſpitz
finden, ſo entſpringen auch die Farben aus dieſen ver-
ſchiedenen Zuſtaͤnden. Auf welche Weiſe ſich aber hier-
mit die Behauptung vereinigen laſſe, die Farbe ſey
ganz conventionell, getrauen wir uns nicht aufzuloͤſen.
Denn ſobald eine gewiſſe Eigenſchaft der Oberflaͤche
eine gewiſſe Farbe mit ſich fuͤhrt, ſo kann es doch
hier nicht ganz an einem beſtimmten Verhaͤltniß
fehlen.

Betrachten wir nun Epikur und Lukrez, ſo
gedenken wir einer allgemeinen Bemerkung, daß die
originellen Lehrer immer noch das Unaufloͤsbare der
Aufgabe empfinden, und ſich ihr auf eine naive ge-
lenke Weiſe zu naͤhern ſuchen. Die Nachfolger werden
ſchon didactiſch, und weiterhin ſteigt das Dogmatiſche
bis zum Intoleranten.

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[110/0144] Sinnlichkeit und neigen ſich zum Oberflaͤchlichen. Die Unſicherheit der Sinne wird anerkannt; man findet ſich genoͤthigt, nach einer Controlle umherzuſchauen, die aber nicht gefunden wird. Denn anſtatt bey der Ver- wandtſchaft der Sinne nach einem ideellen Sinn auf- zublicken, in dem ſich alle vereinigten; ſo wird das Geſehene in ein Getaſtetes verwandelt, der ſchaͤrfſte Sinn ſoll ſich in den ſtumpfſten aufloͤſen, uns durch ihn begreiflicher werden. Daher entſteht Ungewißheit anſtatt einer Gewißheit. Die Farbe iſt nicht, weil ſie nicht getaſtet werden kann, oder ſie iſt nur inſofern, als ſie allenfalls taſtbar werden koͤnnte. Daher die Symbole von dem Taſten hergenommen werden. Wie ſich die Oberflaͤchen glatt, rauh, ſcharf, eckig und ſpitz finden, ſo entſpringen auch die Farben aus dieſen ver- ſchiedenen Zuſtaͤnden. Auf welche Weiſe ſich aber hier- mit die Behauptung vereinigen laſſe, die Farbe ſey ganz conventionell, getrauen wir uns nicht aufzuloͤſen. Denn ſobald eine gewiſſe Eigenſchaft der Oberflaͤche eine gewiſſe Farbe mit ſich fuͤhrt, ſo kann es doch hier nicht ganz an einem beſtimmten Verhaͤltniß fehlen. Betrachten wir nun Epikur und Lukrez, ſo gedenken wir einer allgemeinen Bemerkung, daß die originellen Lehrer immer noch das Unaufloͤsbare der Aufgabe empfinden, und ſich ihr auf eine naive ge- lenke Weiſe zu naͤhern ſuchen. Die Nachfolger werden ſchon didactiſch, und weiterhin ſteigt das Dogmatiſche bis zum Intoleranten.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/144>, abgerufen am 23.05.2024.