was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen, was wir als die Hauptmomente derselben verehren; so bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge- schichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern Zeit die platonischen und aristotelischen Ueberzeugungen wieder emporgehoben, wie sie verdrängt oder genutzt, wie sie vervollständigt oder verstümmelt werden moch- ten, und wie, durch ein seltsames Schwanken älterer und neuerer Meynungsweisen, die Sache von einer Seite zur andern geschoben, und zuletzt am Anfang des vorigen Jahrhunderts völlig verschoben worden.
Autorität.
Indem wir nun von Ueberlieferung sprechen, sind wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autorität zu reden. Denn genau betrachtet, so ist jede Autorität eine Art Ueberlieferung. Wir lassen die Existenz, die Würde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten, ohne daß wir seinen Ursprung, sein Herkommen, seinen Werth deutlich einsehen und erkennen. So schätzen und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch des gemeinen Lebens; doch ihre großen physischen und chemischen Verdienste sind uns dabey selten gegenwärtig. So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewissen eine ungeheure Autorität, weil sie unergründlich sind; ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be- zeichnen. Dagegen kann man dem Verstand gar keine
was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen, was wir als die Hauptmomente derſelben verehren; ſo bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge- ſchichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern Zeit die platoniſchen und ariſtoteliſchen Ueberzeugungen wieder emporgehoben, wie ſie verdraͤngt oder genutzt, wie ſie vervollſtaͤndigt oder verſtuͤmmelt werden moch- ten, und wie, durch ein ſeltſames Schwanken aͤlterer und neuerer Meynungsweiſen, die Sache von einer Seite zur andern geſchoben, und zuletzt am Anfang des vorigen Jahrhunderts voͤllig verſchoben worden.
Autoritaͤt.
Indem wir nun von Ueberlieferung ſprechen, ſind wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autoritaͤt zu reden. Denn genau betrachtet, ſo iſt jede Autoritaͤt eine Art Ueberlieferung. Wir laſſen die Exiſtenz, die Wuͤrde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten, ohne daß wir ſeinen Urſprung, ſein Herkommen, ſeinen Werth deutlich einſehen und erkennen. So ſchaͤtzen und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch des gemeinen Lebens; doch ihre großen phyſiſchen und chemiſchen Verdienſte ſind uns dabey ſelten gegenwaͤrtig. So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewiſſen eine ungeheure Autoritaͤt, weil ſie unergruͤndlich ſind; ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be- zeichnen. Dagegen kann man dem Verſtand gar keine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0178"n="144"/>
was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen,<lb/>
was wir als die Hauptmomente derſelben verehren;<lb/>ſo bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge-<lb/>ſchichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern<lb/>
Zeit die platoniſchen und ariſtoteliſchen Ueberzeugungen<lb/>
wieder emporgehoben, wie ſie verdraͤngt oder genutzt,<lb/>
wie ſie vervollſtaͤndigt oder verſtuͤmmelt werden moch-<lb/>
ten, und wie, durch ein ſeltſames Schwanken aͤlterer<lb/>
und neuerer Meynungsweiſen, die Sache von einer<lb/>
Seite zur andern geſchoben, und zuletzt am Anfang des<lb/>
vorigen Jahrhunderts voͤllig verſchoben worden.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head><hirendition="#g">Autoritaͤt</hi>.</head><lb/><p>Indem wir nun von Ueberlieferung ſprechen, ſind<lb/>
wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autoritaͤt zu<lb/>
reden. Denn genau betrachtet, ſo iſt jede Autoritaͤt<lb/>
eine Art Ueberlieferung. Wir laſſen die Exiſtenz, die<lb/>
Wuͤrde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten,<lb/>
ohne daß wir ſeinen Urſprung, ſein Herkommen, ſeinen<lb/>
Werth deutlich einſehen und erkennen. So ſchaͤtzen<lb/>
und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch<lb/>
des gemeinen Lebens; doch ihre großen phyſiſchen und<lb/>
chemiſchen Verdienſte ſind uns dabey ſelten gegenwaͤrtig.<lb/>
So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewiſſen<lb/>
eine ungeheure Autoritaͤt, weil ſie unergruͤndlich ſind;<lb/>
ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be-<lb/>
zeichnen. Dagegen kann man dem Verſtand gar keine<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[144/0178]
was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen,
was wir als die Hauptmomente derſelben verehren;
ſo bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge-
ſchichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern
Zeit die platoniſchen und ariſtoteliſchen Ueberzeugungen
wieder emporgehoben, wie ſie verdraͤngt oder genutzt,
wie ſie vervollſtaͤndigt oder verſtuͤmmelt werden moch-
ten, und wie, durch ein ſeltſames Schwanken aͤlterer
und neuerer Meynungsweiſen, die Sache von einer
Seite zur andern geſchoben, und zuletzt am Anfang des
vorigen Jahrhunderts voͤllig verſchoben worden.
Autoritaͤt.
Indem wir nun von Ueberlieferung ſprechen, ſind
wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autoritaͤt zu
reden. Denn genau betrachtet, ſo iſt jede Autoritaͤt
eine Art Ueberlieferung. Wir laſſen die Exiſtenz, die
Wuͤrde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten,
ohne daß wir ſeinen Urſprung, ſein Herkommen, ſeinen
Werth deutlich einſehen und erkennen. So ſchaͤtzen
und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch
des gemeinen Lebens; doch ihre großen phyſiſchen und
chemiſchen Verdienſte ſind uns dabey ſelten gegenwaͤrtig.
So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewiſſen
eine ungeheure Autoritaͤt, weil ſie unergruͤndlich ſind;
ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be-
zeichnen. Dagegen kann man dem Verſtand gar keine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/178>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.