Autorität zuschreiben: denn er bringt nur immer seines Gleichen hervor; so wie denn offenbar aller Verstandes- Unterricht zur Anarchie führt.
Gegen die Autorität verhält sich der Mensch, so wie gegen vieles andere, beständig schwankend. Er fühlt in seiner Dürftigkeit, daß er, ohne sich auf etwas Drittes stützen, mit seinen Kräften nicht auslangt. Dann aber, wenn das Gefühl seiner Macht und Herrlichkeit in ihm aufgeht, stößt er das Hülfreiche von sich und glaubt für sich selbst und andre hinzu- reichen.
Das Kind bequemt sich meist mit Ergebung unter die Autorität der Aeltern; der Knabe sträubt sich dage- gen; der Jüngling entflieht ihr, und der Mann läßt sie wieder gelten, weil er sich deren mehr oder weniger selbst verschafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus- richte.
Eben so schwankt die Menschheit im Ganzen. Bald sehen wir um einen vorzüglichen Mann sich Freunde, Schüler, Anhänger, Begleiter, Mitlebende, Mitwohnende, Mitstreitende versammeln. Bald fällt eine solche Gesellschaft, ein solches Reich wieder in vie- lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu- mente älterer Zeiten, Documente früherer Gesinnungen, göttlich verehrt, buchstäblich aufgenommen; Jedermann gibt seine Sinne, seinen Verstand darunter gefangen;
II. 10
Autoritaͤt zuſchreiben: denn er bringt nur immer ſeines Gleichen hervor; ſo wie denn offenbar aller Verſtandes- Unterricht zur Anarchie fuͤhrt.
Gegen die Autoritaͤt verhaͤlt ſich der Menſch, ſo wie gegen vieles andere, beſtaͤndig ſchwankend. Er fuͤhlt in ſeiner Duͤrftigkeit, daß er, ohne ſich auf etwas Drittes ſtuͤtzen, mit ſeinen Kraͤften nicht auslangt. Dann aber, wenn das Gefuͤhl ſeiner Macht und Herrlichkeit in ihm aufgeht, ſtoͤßt er das Huͤlfreiche von ſich und glaubt fuͤr ſich ſelbſt und andre hinzu- reichen.
Das Kind bequemt ſich meiſt mit Ergebung unter die Autoritaͤt der Aeltern; der Knabe ſtraͤubt ſich dage- gen; der Juͤngling entflieht ihr, und der Mann laͤßt ſie wieder gelten, weil er ſich deren mehr oder weniger ſelbſt verſchafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus- richte.
Eben ſo ſchwankt die Menſchheit im Ganzen. Bald ſehen wir um einen vorzuͤglichen Mann ſich Freunde, Schuͤler, Anhaͤnger, Begleiter, Mitlebende, Mitwohnende, Mitſtreitende verſammeln. Bald faͤllt eine ſolche Geſellſchaft, ein ſolches Reich wieder in vie- lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu- mente aͤlterer Zeiten, Documente fruͤherer Geſinnungen, goͤttlich verehrt, buchſtaͤblich aufgenommen; Jedermann gibt ſeine Sinne, ſeinen Verſtand darunter gefangen;
II. 10
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0179"n="145"/>
Autoritaͤt zuſchreiben: denn er bringt nur immer ſeines<lb/>
Gleichen hervor; ſo wie denn offenbar aller Verſtandes-<lb/>
Unterricht zur Anarchie fuͤhrt.</p><lb/><p>Gegen die Autoritaͤt verhaͤlt ſich der Menſch, ſo<lb/>
wie gegen vieles andere, beſtaͤndig ſchwankend. Er<lb/>
fuͤhlt in ſeiner Duͤrftigkeit, daß er, ohne ſich auf etwas<lb/>
Drittes ſtuͤtzen, mit ſeinen Kraͤften nicht auslangt.<lb/>
Dann aber, wenn das Gefuͤhl ſeiner Macht und<lb/>
Herrlichkeit in ihm aufgeht, ſtoͤßt er das Huͤlfreiche<lb/>
von ſich und glaubt fuͤr ſich ſelbſt und andre hinzu-<lb/>
reichen.</p><lb/><p>Das Kind bequemt ſich meiſt mit Ergebung unter<lb/>
die Autoritaͤt der Aeltern; der Knabe ſtraͤubt ſich dage-<lb/>
gen; der Juͤngling entflieht ihr, und der Mann laͤßt<lb/>ſie wieder gelten, weil er ſich deren mehr oder weniger<lb/>ſelbſt verſchafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat,<lb/>
daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus-<lb/>
richte.</p><lb/><p>Eben ſo ſchwankt die Menſchheit im Ganzen.<lb/>
Bald ſehen wir um einen vorzuͤglichen Mann ſich<lb/>
Freunde, Schuͤler, Anhaͤnger, Begleiter, Mitlebende,<lb/>
Mitwohnende, Mitſtreitende verſammeln. Bald faͤllt<lb/>
eine ſolche Geſellſchaft, ein ſolches Reich wieder in vie-<lb/>
lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu-<lb/>
mente aͤlterer Zeiten, Documente fruͤherer Geſinnungen,<lb/>
goͤttlich verehrt, buchſtaͤblich aufgenommen; Jedermann<lb/>
gibt ſeine Sinne, ſeinen Verſtand darunter gefangen;<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">II.</hi> 10</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[145/0179]
Autoritaͤt zuſchreiben: denn er bringt nur immer ſeines
Gleichen hervor; ſo wie denn offenbar aller Verſtandes-
Unterricht zur Anarchie fuͤhrt.
Gegen die Autoritaͤt verhaͤlt ſich der Menſch, ſo
wie gegen vieles andere, beſtaͤndig ſchwankend. Er
fuͤhlt in ſeiner Duͤrftigkeit, daß er, ohne ſich auf etwas
Drittes ſtuͤtzen, mit ſeinen Kraͤften nicht auslangt.
Dann aber, wenn das Gefuͤhl ſeiner Macht und
Herrlichkeit in ihm aufgeht, ſtoͤßt er das Huͤlfreiche
von ſich und glaubt fuͤr ſich ſelbſt und andre hinzu-
reichen.
Das Kind bequemt ſich meiſt mit Ergebung unter
die Autoritaͤt der Aeltern; der Knabe ſtraͤubt ſich dage-
gen; der Juͤngling entflieht ihr, und der Mann laͤßt
ſie wieder gelten, weil er ſich deren mehr oder weniger
ſelbſt verſchafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat,
daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig aus-
richte.
Eben ſo ſchwankt die Menſchheit im Ganzen.
Bald ſehen wir um einen vorzuͤglichen Mann ſich
Freunde, Schuͤler, Anhaͤnger, Begleiter, Mitlebende,
Mitwohnende, Mitſtreitende verſammeln. Bald faͤllt
eine ſolche Geſellſchaft, ein ſolches Reich wieder in vie-
lerley Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monu-
mente aͤlterer Zeiten, Documente fruͤherer Geſinnungen,
goͤttlich verehrt, buchſtaͤblich aufgenommen; Jedermann
gibt ſeine Sinne, ſeinen Verſtand darunter gefangen;
II. 10
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/179>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.