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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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der specificirten organischen Wesen, so sind diese von
unendlicher Mannigfaltigkeit und oft erstaunenswürdig
seltsam. Man erinnere sich, im gröberen Sinne, an
Ausdünstungen, Geruch; im zarteren, an Bezüge der
körperlichen Form, des Blickes, der Stimme. Man ge-
denke der Gewalt des Wollens, der Intentionen, der
Wünsche, des Gebetes. Was für unendliche und un-
erforschliche Sympathieen, Antipathieen, Idiosyncrasieen
überkreuzen sich nicht! Wie manches wird Jahrelang
als ein wundersamer einzelner Fall bemerkt, was zu-
letzt als ein allgemeiner durchgehendes Naturgesetz er-
scheint. Schon lange war es den Besitzern alter Schlös-
ser verdrießlich, daß die bleyernen und kupfernen Dach-
rinnen, da wo sie auf den eisernen Haken auflagen,
vom Rost früher aufgezehrt wurden, als an allen an-
dern Stellen; jetzt wissen wir die Ursache und wie auf
eine ganz natürliche Weise zu helfen ist. Hätte früher
Jemand bemerkt, daß ein zwischengeschobenes Stück-
chen Holz die ganze Wirkung aufhebe; so hätte er viel-
leicht diesem besondern Holze die Wirkung zugeschrie-
ben und als ein Hausmittel bekannt gemacht.

Wenn uns nun die fortschreitende Naturbetrach-
tung und Naturkenntniß, indem sie uns etwas ver-
borgenes entdecken, auf etwas noch verborgeneres auf-
merksam machen; wenn erhöhte Kunst, verfeinerte
Künstlichkeit das Unmögliche in etwas Gemeines ver-
wandeln; wenn der Taschenspieler täglich mehr alles Glaub-
würdige und Begreifliche vor unsern Augen zu Schan-
den macht, werden wir dadurch nicht immerfort schwe-

der ſpecificirten organiſchen Weſen, ſo ſind dieſe von
unendlicher Mannigfaltigkeit und oft erſtaunenswuͤrdig
ſeltſam. Man erinnere ſich, im groͤberen Sinne, an
Ausduͤnſtungen, Geruch; im zarteren, an Bezuͤge der
koͤrperlichen Form, des Blickes, der Stimme. Man ge-
denke der Gewalt des Wollens, der Intentionen, der
Wuͤnſche, des Gebetes. Was fuͤr unendliche und un-
erforſchliche Sympathieen, Antipathieen, Idioſyncraſieen
uͤberkreuzen ſich nicht! Wie manches wird Jahrelang
als ein wunderſamer einzelner Fall bemerkt, was zu-
letzt als ein allgemeiner durchgehendes Naturgeſetz er-
ſcheint. Schon lange war es den Beſitzern alter Schloͤſ-
ſer verdrießlich, daß die bleyernen und kupfernen Dach-
rinnen, da wo ſie auf den eiſernen Haken auflagen,
vom Roſt fruͤher aufgezehrt wurden, als an allen an-
dern Stellen; jetzt wiſſen wir die Urſache und wie auf
eine ganz natuͤrliche Weiſe zu helfen iſt. Haͤtte fruͤher
Jemand bemerkt, daß ein zwiſchengeſchobenes Stuͤck-
chen Holz die ganze Wirkung aufhebe; ſo haͤtte er viel-
leicht dieſem beſondern Holze die Wirkung zugeſchrie-
ben und als ein Hausmittel bekannt gemacht.

Wenn uns nun die fortſchreitende Naturbetrach-
tung und Naturkenntniß, indem ſie uns etwas ver-
borgenes entdecken, auf etwas noch verborgeneres auf-
merkſam machen; wenn erhoͤhte Kunſt, verfeinerte
Kuͤnſtlichkeit das Unmoͤgliche in etwas Gemeines ver-
wandeln; wenn der Taſchenſpieler taͤglich mehr alles Glaub-
wuͤrdige und Begreifliche vor unſern Augen zu Schan-
den macht, werden wir dadurch nicht immerfort ſchwe-

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[222/0256] der ſpecificirten organiſchen Weſen, ſo ſind dieſe von unendlicher Mannigfaltigkeit und oft erſtaunenswuͤrdig ſeltſam. Man erinnere ſich, im groͤberen Sinne, an Ausduͤnſtungen, Geruch; im zarteren, an Bezuͤge der koͤrperlichen Form, des Blickes, der Stimme. Man ge- denke der Gewalt des Wollens, der Intentionen, der Wuͤnſche, des Gebetes. Was fuͤr unendliche und un- erforſchliche Sympathieen, Antipathieen, Idioſyncraſieen uͤberkreuzen ſich nicht! Wie manches wird Jahrelang als ein wunderſamer einzelner Fall bemerkt, was zu- letzt als ein allgemeiner durchgehendes Naturgeſetz er- ſcheint. Schon lange war es den Beſitzern alter Schloͤſ- ſer verdrießlich, daß die bleyernen und kupfernen Dach- rinnen, da wo ſie auf den eiſernen Haken auflagen, vom Roſt fruͤher aufgezehrt wurden, als an allen an- dern Stellen; jetzt wiſſen wir die Urſache und wie auf eine ganz natuͤrliche Weiſe zu helfen iſt. Haͤtte fruͤher Jemand bemerkt, daß ein zwiſchengeſchobenes Stuͤck- chen Holz die ganze Wirkung aufhebe; ſo haͤtte er viel- leicht dieſem beſondern Holze die Wirkung zugeſchrie- ben und als ein Hausmittel bekannt gemacht. Wenn uns nun die fortſchreitende Naturbetrach- tung und Naturkenntniß, indem ſie uns etwas ver- borgenes entdecken, auf etwas noch verborgeneres auf- merkſam machen; wenn erhoͤhte Kunſt, verfeinerte Kuͤnſtlichkeit das Unmoͤgliche in etwas Gemeines ver- wandeln; wenn der Taſchenſpieler taͤglich mehr alles Glaub- wuͤrdige und Begreifliche vor unſern Augen zu Schan- den macht, werden wir dadurch nicht immerfort ſchwe-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/256>, abgerufen am 24.11.2024.