Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

bey dieser Gelegenheit geschrieben, ist uns übrig, aus
welchem folgende Stellen hier Platz finden mögen.


"Soll ich aufrichtig seyn, so muß ich offen bezeu-
gen, daß ich unter diejenigen gehöre, welche unsre
Künste und Wissenschaften für fester gegründet halten,
als Du gern zugeben möchtest."


"Wenn wir uns deinem Rathe folgsam bezeigen
und die allgemeinen Begriffe, die dem Menschen einge-
boren sind, ablegen, alles was wir geleistet auslöschen,
und im Handeln und Denken Kinder werden, damit
wir ins Reich der Natur eingehen dürfen, wie wir
unter gleichen Bedingungen, nach Biblischer Vorschrift,
ins Himmelreich gelangen sollen; so ist nach meiner
Ueberzeugung nichts gewisser, als daß wir uns jählings
in eine Barbarey verlieren, aus der wir nach vielen
Jahrhunderten, um nichts an theoretischen Hülfsmit-
teln reicher als jetzt, hervortauchen werden. Ja wohl
würden wir eine zweyte Kindheit antreten, wenn wir
zur tabula rasa geworden, und nach ausgetilgter Spur
früherer Grundsätze, die Anfänge einer neuen Welt
wieder hervorzulocken unternähmen. Und wenn wir
aus dem was geschieht, aus dem was uns die Sinne
bringen, erst wieder soviel zusammen klauben sollten,
als im Verstande zu einem allgemeinen Begriff hin-
reichend wäre, nach jenem Waidspruch: im Verstande

bey dieſer Gelegenheit geſchrieben, iſt uns uͤbrig, aus
welchem folgende Stellen hier Platz finden moͤgen.


„Soll ich aufrichtig ſeyn, ſo muß ich offen bezeu-
gen, daß ich unter diejenigen gehoͤre, welche unſre
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften fuͤr feſter gegruͤndet halten,
als Du gern zugeben moͤchteſt.“


„Wenn wir uns deinem Rathe folgſam bezeigen
und die allgemeinen Begriffe, die dem Menſchen einge-
boren ſind, ablegen, alles was wir geleiſtet ausloͤſchen,
und im Handeln und Denken Kinder werden, damit
wir ins Reich der Natur eingehen duͤrfen, wie wir
unter gleichen Bedingungen, nach Bibliſcher Vorſchrift,
ins Himmelreich gelangen ſollen; ſo iſt nach meiner
Ueberzeugung nichts gewiſſer, als daß wir uns jaͤhlings
in eine Barbarey verlieren, aus der wir nach vielen
Jahrhunderten, um nichts an theoretiſchen Huͤlfsmit-
teln reicher als jetzt, hervortauchen werden. Ja wohl
wuͤrden wir eine zweyte Kindheit antreten, wenn wir
zur tabula rasa geworden, und nach ausgetilgter Spur
fruͤherer Grundſaͤtze, die Anfaͤnge einer neuen Welt
wieder hervorzulocken unternaͤhmen. Und wenn wir
aus dem was geſchieht, aus dem was uns die Sinne
bringen, erſt wieder ſoviel zuſammen klauben ſollten,
als im Verſtande zu einem allgemeinen Begriff hin-
reichend waͤre, nach jenem Waidſpruch: im Verſtande

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0264" n="230"/>
bey die&#x017F;er Gelegenheit ge&#x017F;chrieben, i&#x017F;t uns u&#x0364;brig, aus<lb/>
welchem folgende Stellen hier Platz finden mo&#x0364;gen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>&#x201E;Soll ich aufrichtig &#x017F;eyn, &#x017F;o muß ich offen bezeu-<lb/>
gen, daß ich unter diejenigen geho&#x0364;re, welche un&#x017F;re<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften fu&#x0364;r fe&#x017F;ter gegru&#x0364;ndet halten,<lb/>
als Du gern zugeben mo&#x0364;chte&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>&#x201E;Wenn wir uns deinem Rathe folg&#x017F;am bezeigen<lb/>
und die allgemeinen Begriffe, die dem Men&#x017F;chen einge-<lb/>
boren &#x017F;ind, ablegen, alles was wir gelei&#x017F;tet auslo&#x0364;&#x017F;chen,<lb/>
und im Handeln und Denken Kinder werden, damit<lb/>
wir ins Reich der Natur eingehen du&#x0364;rfen, wie wir<lb/>
unter gleichen Bedingungen, nach Bibli&#x017F;cher Vor&#x017F;chrift,<lb/>
ins Himmelreich gelangen &#x017F;ollen; &#x017F;o i&#x017F;t nach meiner<lb/>
Ueberzeugung nichts gewi&#x017F;&#x017F;er, als daß wir uns ja&#x0364;hlings<lb/>
in eine Barbarey verlieren, aus der wir nach vielen<lb/>
Jahrhunderten, um nichts an theoreti&#x017F;chen Hu&#x0364;lfsmit-<lb/>
teln reicher als jetzt, hervortauchen werden. Ja wohl<lb/>
wu&#x0364;rden wir eine zweyte Kindheit antreten, wenn wir<lb/>
zur <hi rendition="#aq">tabula rasa</hi> geworden, und nach ausgetilgter Spur<lb/>
fru&#x0364;herer Grund&#x017F;a&#x0364;tze, die Anfa&#x0364;nge einer neuen Welt<lb/>
wieder hervorzulocken unterna&#x0364;hmen. Und wenn wir<lb/>
aus dem was ge&#x017F;chieht, aus dem was uns die Sinne<lb/>
bringen, er&#x017F;t wieder &#x017F;oviel zu&#x017F;ammen klauben &#x017F;ollten,<lb/>
als im Ver&#x017F;tande zu einem allgemeinen Begriff hin-<lb/>
reichend wa&#x0364;re, nach jenem Waid&#x017F;pruch: im Ver&#x017F;tande<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[230/0264] bey dieſer Gelegenheit geſchrieben, iſt uns uͤbrig, aus welchem folgende Stellen hier Platz finden moͤgen. „Soll ich aufrichtig ſeyn, ſo muß ich offen bezeu- gen, daß ich unter diejenigen gehoͤre, welche unſre Kuͤnſte und Wiſſenſchaften fuͤr feſter gegruͤndet halten, als Du gern zugeben moͤchteſt.“ „Wenn wir uns deinem Rathe folgſam bezeigen und die allgemeinen Begriffe, die dem Menſchen einge- boren ſind, ablegen, alles was wir geleiſtet ausloͤſchen, und im Handeln und Denken Kinder werden, damit wir ins Reich der Natur eingehen duͤrfen, wie wir unter gleichen Bedingungen, nach Bibliſcher Vorſchrift, ins Himmelreich gelangen ſollen; ſo iſt nach meiner Ueberzeugung nichts gewiſſer, als daß wir uns jaͤhlings in eine Barbarey verlieren, aus der wir nach vielen Jahrhunderten, um nichts an theoretiſchen Huͤlfsmit- teln reicher als jetzt, hervortauchen werden. Ja wohl wuͤrden wir eine zweyte Kindheit antreten, wenn wir zur tabula rasa geworden, und nach ausgetilgter Spur fruͤherer Grundſaͤtze, die Anfaͤnge einer neuen Welt wieder hervorzulocken unternaͤhmen. Und wenn wir aus dem was geſchieht, aus dem was uns die Sinne bringen, erſt wieder ſoviel zuſammen klauben ſollten, als im Verſtande zu einem allgemeinen Begriff hin- reichend waͤre, nach jenem Waidſpruch: im Verſtande

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/264
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/264>, abgerufen am 16.06.2024.