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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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besonders den weniger ausgebildeten, gar mannigfalti-
ges Unrecht. Man kann es in diesem Sinne wohl das
selbstkluge nennen, indem es sich auf eine gewisse klare
Verständigkeit sehr viel einbildete, und alles nach ei-
nem einmal gegebenen Maßstabe abzumessen sich ge-
wöhnte. Zweifelsucht und entscheidendes Absprechen
wechselten mit einander ab, um eine und dieselbe Wir-
kung hervorzubringen: eine dünkelhafte Selbstgenüg-
samkeit, und ein Ablehnen alles dessen, was sich nicht
sogleich erreichen noch überschauen ließ.

Wo findet sich Ehrfurcht für hohe unerreichbare
Forderungen? Wo das Gefühl für einen in unergründ-
liche Tiefe sich senkenden Ernst? Wie selten ist die
Nachsicht gegen kühnes mislungenes Bestreben! wie sel-
ten die Geduld gegen den langsam Werdenden! Ob
hierin der lebhafte Franzose oder der trockne Deutsche
mehr gefehlt, und in wiefern beyde wechselseitig zu die-
sem weit verbreiteten Tone beygetragen, ist hier der
Ort nicht zu untersuchen. Man schlage diejenigen Wer-
ke, Hefte, Blätter nach, in welchen kürzere oder länge-
re Notizen von dem Leben gelehrter Männer, ihrem
Charakter und Schriften gegeben sind; man durchsuche
Dictionnaire, Bibliotheken, Nekrologen, und selten
wird sich finden, daß eine problematische Natur mit
Gründlichkeit und Billigkeit dargestellt worden. Man
kommt zwar den wackern Personen früherer Zeiten dar-
in zu Hülfe, daß man sie vom Verdacht der Zaube-
rey zu befreyen sucht; aber nun thäte es gleich wieder
Noth, daß man sich auf eine andre Weise ihrer an-

beſonders den weniger ausgebildeten, gar mannigfalti-
ges Unrecht. Man kann es in dieſem Sinne wohl das
ſelbſtkluge nennen, indem es ſich auf eine gewiſſe klare
Verſtaͤndigkeit ſehr viel einbildete, und alles nach ei-
nem einmal gegebenen Maßſtabe abzumeſſen ſich ge-
woͤhnte. Zweifelſucht und entſcheidendes Abſprechen
wechſelten mit einander ab, um eine und dieſelbe Wir-
kung hervorzubringen: eine duͤnkelhafte Selbſtgenuͤg-
ſamkeit, und ein Ablehnen alles deſſen, was ſich nicht
ſogleich erreichen noch uͤberſchauen ließ.

Wo findet ſich Ehrfurcht fuͤr hohe unerreichbare
Forderungen? Wo das Gefuͤhl fuͤr einen in unergruͤnd-
liche Tiefe ſich ſenkenden Ernſt? Wie ſelten iſt die
Nachſicht gegen kuͤhnes mislungenes Beſtreben! wie ſel-
ten die Geduld gegen den langſam Werdenden! Ob
hierin der lebhafte Franzoſe oder der trockne Deutſche
mehr gefehlt, und in wiefern beyde wechſelſeitig zu die-
ſem weit verbreiteten Tone beygetragen, iſt hier der
Ort nicht zu unterſuchen. Man ſchlage diejenigen Wer-
ke, Hefte, Blaͤtter nach, in welchen kuͤrzere oder laͤnge-
re Notizen von dem Leben gelehrter Maͤnner, ihrem
Charakter und Schriften gegeben ſind; man durchſuche
Dictionnaire, Bibliotheken, Nekrologen, und ſelten
wird ſich finden, daß eine problematiſche Natur mit
Gruͤndlichkeit und Billigkeit dargeſtellt worden. Man
kommt zwar den wackern Perſonen fruͤherer Zeiten dar-
in zu Huͤlfe, daß man ſie vom Verdacht der Zaube-
rey zu befreyen ſucht; aber nun thaͤte es gleich wieder
Noth, daß man ſich auf eine andre Weiſe ihrer an-

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[239/0273] beſonders den weniger ausgebildeten, gar mannigfalti- ges Unrecht. Man kann es in dieſem Sinne wohl das ſelbſtkluge nennen, indem es ſich auf eine gewiſſe klare Verſtaͤndigkeit ſehr viel einbildete, und alles nach ei- nem einmal gegebenen Maßſtabe abzumeſſen ſich ge- woͤhnte. Zweifelſucht und entſcheidendes Abſprechen wechſelten mit einander ab, um eine und dieſelbe Wir- kung hervorzubringen: eine duͤnkelhafte Selbſtgenuͤg- ſamkeit, und ein Ablehnen alles deſſen, was ſich nicht ſogleich erreichen noch uͤberſchauen ließ. Wo findet ſich Ehrfurcht fuͤr hohe unerreichbare Forderungen? Wo das Gefuͤhl fuͤr einen in unergruͤnd- liche Tiefe ſich ſenkenden Ernſt? Wie ſelten iſt die Nachſicht gegen kuͤhnes mislungenes Beſtreben! wie ſel- ten die Geduld gegen den langſam Werdenden! Ob hierin der lebhafte Franzoſe oder der trockne Deutſche mehr gefehlt, und in wiefern beyde wechſelſeitig zu die- ſem weit verbreiteten Tone beygetragen, iſt hier der Ort nicht zu unterſuchen. Man ſchlage diejenigen Wer- ke, Hefte, Blaͤtter nach, in welchen kuͤrzere oder laͤnge- re Notizen von dem Leben gelehrter Maͤnner, ihrem Charakter und Schriften gegeben ſind; man durchſuche Dictionnaire, Bibliotheken, Nekrologen, und ſelten wird ſich finden, daß eine problematiſche Natur mit Gruͤndlichkeit und Billigkeit dargeſtellt worden. Man kommt zwar den wackern Perſonen fruͤherer Zeiten dar- in zu Huͤlfe, daß man ſie vom Verdacht der Zaube- rey zu befreyen ſucht; aber nun thaͤte es gleich wieder Noth, daß man ſich auf eine andre Weiſe ihrer an-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/273>, abgerufen am 26.11.2024.